Süddeutsche Zeitung

Neun-Euro-Ticket:Für neun Euro abgasarm durch Stadt und Land

Lesezeit: 3 min

Von Juni an sollen die Deutschen das Auto stehen lassen und mit Bus und Bahn Energie sparen. Wie kommt man an die Tickets? Und drohen überfüllte Züge? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Markus Balser, Berlin

Mit Plänen für ein günstiges Nahverkehrsticket hatte die Ampelkoalition Mitte März in einer nächtlichen Sitzung ganz Deutschland überrascht. Seither arbeiteten Fachleute von Bund, Ländern und Verkehrsverbänden fieberhaft an den Details. Seit diesem Mittwoch steht fest: Für neun Euro im Monat sollen die Menschen ab Juni Busse und Bahnen im Nahverkehr nutzen können - ein Vierteljahr lang. Die Rabattaktion soll die Bürger wenigstens teilweise von den hohen Energiepreisen entlasten und nach der Pandemie wieder Lust auf den ÖPNV machen. Die Süddeutsche Zeitung beantwortet die wichtigsten Fragen zu einem der größten Experimente in der Geschichte des Nahverkehrs:

Was bieten die Tickets den Kunden?

Wer einen Neun-Euro-Fahrschein kauft, soll damit in dem jeweiligen Kalendermonat mit Bussen und Bahnen im öffentlichen Nahverkehr fahren können. Das bedeutet: Wer in Berlin ein solches Ticket erwirbt, kann damit auch Busse und Bahnen in Hamburg, München oder in anderen Städten oder Verkehrsverbänden nutzen. Auch Ferienausflüge von München in die Berge oder von Berlin an die Ostsee sind damit möglich. Wer Zeit mitbringt, kann auch längere Strecken quer durch das Land in Regionalzügen zurücklegen. Nur der Fernverkehr der Deutschen Bahn, also die ICEs, ECs und ICs der Bahn, sowie die Flix-Züge und -Busse, bleiben Passagieren mit dem Ticket vorenthalten.

Wie kommt man an die Tickets?

Der Verkauf beginnt voraussichtlich Ende Mai. Die Fahrscheine werden als Online-Ticket angeboten. Geplant ist dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zufolge dafür auch eine bundesweite App. Um Menschen ohne Online-Zugang aber nicht auszuschließen, werden die Tickets auch über Fahrkartenautomaten und die Kundencenter von Bahn und Verkehrsverbänden erhältlich sein. Sie gelten jeweils bis zum Ende des Monats, in dem sie gekauft wurden, und verlängern sich nicht automatisch.

Wie profitieren Abo-Kunden von den günstigen Tarifen?

Wer schon ein Abo für den Nahverkehr hat, soll ebenfalls etwas von der Aktion haben. Nach Plänen des Verkehrsministeriums sollen die Nahverkehrsunternehmen die Differenz zwischen dem Ticketpreis und dem Neun-Euro-Ticket automatisch ausgleichen. Entweder über eine Verringerung des Bankeinzugs oder über eine entsprechende Erstattung. Für Semestertickets ist eine ähnliche Lösung vorgesehen.

Drohen im Sommer überfüllte Züge und Busse?

Der Nahverkehrsverband VDV rechnet nach einer ersten vorsichtigen Schätzung damit, dass insgesamt 30 Millionen alte und neue Fahrgäste das Ticket nutzen werden. Damit würden viel mehr Passagiere einsteigen als normalerweise in den Sommermonaten. Die größte Bahngewerkschaft EVG warnt bereits vor chaotischen Zuständen. "Ich rechne mit Räumungen überfüllter Züge und wegen Überlastung gesperrten Bahnhöfen", sagt EVG-Chef Klaus Hommel. Kein Bahnunternehmen sei bislang ausreichend auf den zu erwartenden Andrang der Kunden vorbereitet. Aktuell stünden auch nicht genug Fahrzeuge zur Verfügung.

Betroffen sind laut EVG vor allem touristische Ziele wie der Bodensee oder die Ostsee. "Wir fürchten eine Überlastung des Systems bis hin zum Stillstand", warnt Hommel. Das Bundesverkehrsministerium erwartet, dass die Verkehrsbetriebe die Probleme in den Griff bekommen. Die Nutzerinnen und Nutzer der Tickets müssten aber damit rechnen, dass es punktuell zu einer starken Auslastung kommen könne, wie man sie auch aus Spitzenzeiten kennt.

Was erhofft sich die Politik von der Rabattaktion?

Auf Drängen der Grünen macht die Bundesregierung mit dem Nahverkehrsticket als Ausgleich für die Subventionierung fossiler Energien - etwa durch den günstigeren Sprit - in ihrem Energie-Entlastungspaket auch den Nahverkehr billiger. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) sieht in den günstigen Tickets einen Anreiz für die dauerhafte Nutzung von Bussen und Bahnen. Er sprach von einer Chance, den öffentlichen Personennahverkehr wieder sichtbar zu machen. Zudem helfe der erhoffte Umstieg vieler Deutscher auf den Nahverkehr, Energie zu sparen. Fachleute fordern allerdings dauerhaft mehr Geld für den Nahverkehr, damit es nicht bei einem Strohfeuer bleibt.

Warum streiten Bund und Länder weiter über Geld für den Nahverkehr?

Bei dem Konflikt geht es um weit mehr als die Finanzierung des Neun-Euro-Monatsticket. Der Bund hatte zugesagt, die Kosten dafür zu übernehmen: bis zu 2,5 Milliarden Euro. Die Länder aber fordern, dass der Bund auch mögliche Zusatzkosten über diesen Betrag hinaus zahlt, etwa für zusätzliche Busse oder Bahnen. Zudem erwarten die Länder zusätzliche Milliardenhilfen etwa wegen gestiegener Energiekosten. Das lehnt Minister Wissing bislang ab. Die Nahverkehrsbranche hält es nun sogar für möglich, dass Unternehmen ihr Angebot wegen gestiegener Kosten künftig reduzieren oder die Preise anheben müssen. Beides würde dem Ziel der Regierung entgegenlaufen, die Passagierzahlen für mehr Klimaschutz bis 2030 zu verdoppeln.

Könnte das Billigticket kurz vor dem Start noch scheitern?

Eskaliert der Streit über die Finanzen, könnten die Länder das Vorhaben im Bundesrat theoretisch stoppen, denn sie müssen einer Änderung des Regionalisierungsgesetzes zustimmen. Doch ein Veto gilt schon wegen der anstehenden Landtagswahlen als unwahrscheinlich. In jedem Fall aber ist der Zeitdruck für eine Einigung enorm groß. Soll das Neun-Euro-Ticket wie versprochen bereits Anfang Juni starten, müssen Bundestag und Bundesrat den Plänen spätestens am 19. und 20. Mai zustimmen.

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