Magna Charta:Man achte auf das Kleingeschriebene

Magna Carta: Law, Liberty, Legacy Opens At The British Library

Eine der vier erhaltenen Exemplare der Magna Charta von 1215.

(Foto: Getty Images)

Es geschah im Jahre 1215: Die erste Magna Charta wurde unterzeichnet, der Grundstein des angelsächsischen Rechtssystems. Ausgerechnet einer der schlechtesten Herrscher der englischen Geschichte verbriefte die Freiheitsrechte erstmals.

Von Alexander Menden, London

Im März 1941 stand Großbritannien gegen Nazideutschland mit dem Rücken zur Wand. Als Dank für die geleistete Hilfe, und um einen Anreiz für einen amerikanischen Kriegseintritt zu schaffen, kam die Idee auf, den Amerikanern eine der erhaltenen mittelalterlichen Versionen der Magna Charta zu schenken: "Wenn wir nur einmal in unserem Leben unsere Vorsicht aufgeben und unseren kostbarsten Besitz unseren besten Freunden anbieten würden", so eine Notiz aus dem britischen Außenministerium, "könnte der Ertrag unschätzbar sein, heute und in Zukunft." Der Vorschlag wurde Premierminister Winston Churchill vorgelegt, der die Schenkung ernsthaft in Erwägung zog.

Letztlich wurde nichts daraus, vor allem deshalb, weil sich herausstellte, dass die Abschrift, um die es ging, gar nicht dem Staat gehörte, sondern der Kathedrale von Lincoln. Was diese Episode dennoch eindrucksvoll illustriert, ist der Wert, welcher der Magna Charta zugemessen wurde.

In der Londoner British Library werden derzeit die Magna-Charta-Memos von 1941 gezeigt, mit handschriftlichen Anmerkungen Churchills. Sie sind Teil der Schau "Magna Charta - Gesetz, Freiheit, Vermächtnis", der größten Ausstellung, die diesem Dokument je gewidmet wurde.

Eher ein Friedensvertrag

Im kommenden Juni wird der 800. Jahrestag der Magna-Charta-Ratifizierung begangen. Sie gilt heute als Grundstein nicht nur der britischen und der amerikanischen Rechtssysteme, sondern der Rechtsprechung aller ehemaligen britischen Kolonien und Commonwealth-Staaten, und hat damit einen direkten Einfluss auf das Leben eines Drittels der Weltbevölkerung.

Magna Charta: Eine Abstammungsurkunde von König John, genannt "Ohneland" (1167-1216).

Eine Abstammungsurkunde von König John, genannt "Ohneland" (1167-1216).

(Foto: British Library)

Artikel 39 der ersten Magna Charta wird sogar als Grundprinzip jedes Rechtsstaates angesehen: "Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst wie angegriffen werden; noch werden wir ihm etwas anderes zufügen oder ihn ins Gefängnis werfen, außer durch das rechtmäßige Urteil durch seinesgleichen, oder durch das Gesetz des Landes."

Seitdem haben sich von politischen Verschwörern bis zu Euro-Skeptikern, von amerikanischen Revolutionären bis zu den Verfassern der Europäischen Menschenrechtskonvention die verschiedensten politischen Lager auf die Magna Charta berufen. Sie gilt, zumindest im englischsprachigen Raum, als bedeutendstes Rechtsdokument überhaupt, als Garant individueller Freiheit gegenüber der Staatsmacht.

Dabei war der Freibrief, den wir heute Magna Charta nennen, eher ein Friedensvertrag, und zwar einer, der zunächst nur einer kleinen adligen Elite zugutekam, und der in seiner ersten Fassung nicht einmal zehn Wochen lang gültig blieb. Paradoxerweise verdanken wir ihn zudem einem der schlechtesten Herrscher, die England je gehabt hat.

König John, der seinem berühmten Bruder Richard Löwenherz 1199 auf den Thron nachfolgte, war ein kleingeistiger und streitsüchtiger Mann, und ein Meister darin, es sich mit allen bedeutenden Zeitgenossen zu verscherzen: Er ließ vermutlich seinen Neffen Arthur umbringen, der einen solideren Anspruch auf den Thron hatte als er selbst. Er galt als glaubensschwach (im Mittelalter ein sehr schwerer Vorwurf) und umgab sich mit einer Clique unerzogener Höflinge, während er den mächtigen englischen Baronen zutiefst misstraute.

Vor allem aber verlor er Englands Territorien in Nordfrankreich, und trug seither den Spitznamen "Ohneland". Um die - durchgehend erfolglosen - Rückeroberungsversuche finanzieren zu können, erlegte er dem englischen Adel horrende Steuern auf. In der British Library sind die offiziellen "Tally Sticks" ausgestellt, Haselholzstöckchen, in die Kerben als Beleg erfolgter Steuerzahlungen geritzt wurden.

Der Aufruhr des Adels zwang den König zum Einlenken

1208 zerstritt sich John mit Papst Innozenz III. über die Frage, wer den Erzbischof von Canterbury ernennen dürfe, und wurde dafür erst einmal exkommuniziert. Nach fünf Jahren, in denen er die meisten Kirchenschätze an sich gebracht hatte, akzeptierte er schließlich den Bischofskandidaten des Papstes und überließ Innozenz sogar die Lehnshoheit über England, bevor dieser ihn absetzen und die Barone von ihrer eigenen Lehnspflicht entbinden konnte. Das entsprechende päpstliche Akzeptanzschreiben wird in London direkt neben den "Articles of the Barons" gezeigt, einem Entwurf der Magna Charta.

Er entstand vermutlich kurz nachdem die englischen Adligen, Johns Willkür endgültig überdrüssig geworden, rebelliert und im Mai 1215 den Tower of London erobert hatten. Aus der langen Liste der "Articles" wurde schließlich die "Carta de Ronemede" destilliert, benannt nach der Wiese Runnymede am Themseufer, auf der sich die Barone und der König am 15. Juni 1215 trafen, um Frieden zu schließen.

Die 63 Klauseln des Vertrags, unter den John sein Siegel setzte, garantierten unter anderem die Rechte der Kirche, Schutz vor willkürlicher Kerkerhaft, unverzögerten Zugang zu fairer Rechtsprechung und die Deckelung der Steuerzahlungen an die Krone. All das kam allerdings nur sogenannten free men zu, in einem Feudalsystem, in dem sich nur eine privilegierte Minderheit "frei" nennen konnte.

Vier Kopien existieren noch

Vier Kopien dieser ersten Magna Charta existieren noch: jeweils eine in den Kathedralen von Salisbury und Lincoln, zwei in der British Library selbst. Die beiden letztgenannten, eine davon durch einen Brand 1731 schwer beschädigt, zeigt die Nationalbibliothek im letzten Raum ihrer Ausstellung. Doch der Weg dorthin ist faszinierender als der Anblick des eng beschriebenen Pergaments selbst.

Die erste Magna Charta hatte nur kurz Bestand. Schon im August 1215 erklärte der Papst sie für "null und nichtig" und drohte dem König erneut mit Exkommunikation, sollte er es wagen, sich daran zu halten. Das Land versank abermals im Chaos. John starb unbeweint im Oktober des folgenden Jahres, und überließ es seinem neunjährigen Sohn Henry, die Scherben seiner katastrophalen Herrschaft aufzulesen.

Magna Carta: Law, Liberty, Legacy Opens At The British Library

Was von King John übrig blieb: Schatulle mit 1797 aus dem Grab des Monarchen entnommenen Zähnen.

(Foto: Getty Images)

Als Henry III. ratifizierte dieser 1225 eine überarbeitete Version der Magna Charta, die von seinem Sohn Edward I. 1297 bestätigt wurde. Die British Library lockert die Präsentation all dieser Originaldokumente durch ein paar nicht-literarische Exponate auf, etwa zwei Backenzähne König Johns, die im 18. Jahrhundert aus seinem Sarg entnommen wurden.

Die Magna Charta spielte danach politisch jahrhundertelang eine untergeordnete Rolle. Thomas Morus zog zwar ihren ersten Artikel ("Dass die Kirche von England frei sein und ihre vollen Rechte und Freiheiten unverletzlich genießen soll") gegen den Abfall Heinrich VIII. vom Katholizismus heran. Wirkliche Bedeutung erlangte sie aber erst wieder im 17. Jahrhundert, als sich der Konflikt zwischen dem englischen Parlament und König Charles I. zuspitzte. Der Richter Edward Coke bezog sich in seiner berühmten "Petition of Right" auf die Magna Charta, um den König an seine Pflicht zu erinnern, sich an das Gesetz zu halten.

Charles selbst wurde letztlich Artikel 40 der ersten Magna Charta - "Wir werden das Recht oder die Gerechtigkeit an niemand verkaufen, niemandem verweigern und für niemand aufschieben" - zum Verhängnis: Er versuchte mit allen Mitteln, den Prozess durch das Parlament gegen ihn zu verzögern, was schließlich gegen ihn verwendet wurde und mit zu seiner Hinrichtung führte.

Selbst erzürnte Autofahrer berufen sich gelegentlich auf die Magna Charta

Diese selbstbewusste Haltung gegenüber dem Souverän übernahmen auch die amerikanischen Revolutionäre: Sie erklärten, König George III. sei ein "Tyrann, ungeeignet, der Herrscher eines freien Volkes zu sein." Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung war, wie Kurator Matthew Shaw befindet, "ein Echo der Ereignisse in Runnymede" und zugleich "eine eigenständige, elegante Erklärung amerikanischer Freiheiten". Mit ihr wurde der Begriff des "freien Mannes" erstmals bewusst auf die Gesamtbevölkerung ausgeweitet. Den größten Coup dieser an bedeutenden Dokumenten reichen Schau stellt eine persönliche Abschrift dar, die der spätere Präsident Thomas Jefferson im Juli 1776 von der Unabhängigkeitserklärung machte.

Nicht nur in der britischen Politik haben seit dem 18. Jahrhundert Konservative und Radikale gleichermaßen die Magna Charta als Beglaubigungsdokument herangezogen: So verwiesen die Cato-Street-Verschwörer, die 1820 das gesamte Kabinett ermorden wollten, ebenso leidenschaftlich wie vergeblich auf das Recht, gesetzesbrecherische Minister zur Rechenschaft zu ziehen. Nelson Mandela wies im berühmten Rivonia-Prozess von 1964 den Vorwurf, ein Kommunist zu sein, mit den Worten von sich, die Magna Charta, die Petition of Right und die Bill of Rights seien "Dokumente, die von Demokraten auf der ganzen Welt verehrt werden".

King John hunting

Darstellung des Königs John bei der Hirschjagd.

(Foto: British Library)

Und der euroskeptische Tory-Abgeordnete John Redwood beruft sich auf Magna Charta, wenn er die "Brüsseler Zentralisierungswut" anprangert und sagt: "Wir wollen ein Land, das die Rechte der Untertanen gegen König und Regierung verteidigt!" Selbst britische Autofahrer, die ein Parkticket nicht bezahlen wollen, pochen gelegentlich auf die Magna Charta.

Heute haben in Großbritannien nur noch drei Artikel der Magna Charta Gesetzeskraft: Artikel 1, der die Freiheit der Kirche sichert, Artikel 9, der die Sonderrechte der City of London garantiert. Und natürlich jene berühmte Garantie des Schutzes vor Staatswillkür und einer schnellen, fairen Rechtsprechung.

Doch "die Bedeutung der Magna Charta lag", wie der ehemalige Lord Chief Justice Thomas Bingham einmal sagte, "nicht allein in dem, was tatsächlich in ihr stand, sondern vielleicht in noch größerem Ausmaß darin, was spätere Generationen glaubten, das darin gestanden habe. Manchmal ist der Mythos wichtiger als die Tatsachen".

Magna Charta - Gesetz, Freiheit, Vermächtnis. British Library, London. Bis 1. September. Info: www.bl.uk, Katalog 25 Pfund.

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