8. Mai 1945:Als die Freiheit kam

60 Jahre Kriegsende -  Keitel unterschreibt Kapitulation

Bedingungslos: am 9. Mai unterzeichnet Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel in Berlin-Karlshorst die Kapitulationsurkunde.

(Foto: dpa)

Die Nazis sind geschlagen, die Wehrmacht kapituliert. Der 8. Mai bringt die Erlösung vom Terror, aber auch neue Schrecken. Rekonstruktion eines Tages.

Von Hubert Wetzel und Joachim Käppner

Dort in Reims, wo einst Frankreichs Könige gekrönt wurden und nun der Oberbefehlshaber der Westalliierten, US-General Dwight D. Eisenhower, sein Hauptquartier hat, unterzeichnet der deutsche Generaloberst Alfred Jodl mit einem goldenen Füller die Kapitulationsurkunde.

Es ist am frühen Morgen des 7. Mai 1945. Zwei Minuten dauert es, bis alle Unterschriften auf dem Papier sind, von 2.39 Uhr bis 2.41 Uhr. In die sauber getippten Zeilen des Dokuments sind mit unverkennbar amerikanischer Handschrift Datum und Zeitpunkt des Inkrafttretens der bedingungslosen Kapitulation eingefügt: 8. Mai, 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit.

"Aus und vorbei mit der alten Ordnung"

Die US-Militärbehörden wollen die Nachricht von der Kapitulation zunächst geheim halten, doch Edward Kennedy, ein Korrespondent der Nachrichtenagentur Associated Press, umgeht die Zensur. Von Mittag an wird die Nachricht über Radiosender verbreitet. Am Morgen des 8. Mai verkündet die New York Times: "THE WAR IN EUROPE IS ENDED! SURRENDER IS UNCONDITIONAL".

Die Aachener Nachrichten sind, weil die Stadt schon im Herbst 1944 befreit wurde, das einzige deutsche Blatt, das eine alliierte Lizenz hat und frei berichten kann. "Der Krieg ist aus", lautet die Schlagzeile am 8. Mai.

In Bad Nauheim feuert ein Feldwebel der US-Armee das Magazin seiner Pistole zur Feier des Sieges in den Frühlingsmorgen. Er heißt Stefan Heym, ein junger deutscher Jude, der vor den Nazis geflohen war und in amerikanischer Uniform zurückgekehrt ist, in der DDR wird er ein berühmter und kritischer Schriftsteller sein. Zwei kleine Jungen spielen auf dem Rasen des Kurparks, ein Parkwächter schnauzt sie an. Heym verscheucht ihn. Es sei "aus und vorbei mit der alten Ordnung, und Freiheit herrsche von jetzt an in Deutschland".

In Berlin liegen noch immer Leichen in den Straßen, die Überreste der Schlacht um die Reichshauptstadt. Soldaten und Zivilisten, Männer und Frauen. "Es war nicht Flieder, noch waren es Hyazinthen, nach denen in diesem Frühjahr die Luft süßlich schmeckte", erinnerte sich später der Autor und Journalist Fritz J. Raddatz.

"Die Unschuld grassiert wie die Pest"

In Dresdens Trümmern erlebt die 21-jährige Inge Passolt mittags den Einmarsch der Roten Armee. Schüsse fallen, jemand ruft: "Die Russen sind da!"

Einige Stunden später sieht sie Soldaten plündern und in das Haus eindringen, in dem sie mit ihrer Familie untergebracht ist. Für das Dresdner Zeitzeugenarchiv schreibt sie später, was geschehen ist: "Mein Vater musste mit den Russen ein Wasserglas voll Wodka trinken, während im gleichen Raum ein Russe die Hausbesitzerin vergewaltigte." Auch sie selbst trifft dieses Schicksal, sie gehört Jahrzehnte später zu den ersten Frauen, die öffentlich darüber sprechen.

Der "Reichsführer SS" Heinrich Himmler, dessen Mordkommandos über Monate alle Deserteure, "Fahnenflüchtigen", "Wehrkraftzersetzer" und Dorfbürgermeister, welche die weiße Fahne hissen wollten, aufgeknüpft hatten, ist geflohen und untergetaucht. Den 8. Mai erlebt er noch in Freiheit. Ein falscher Pass weist ihn aus als Heinrich Hitzinger, Mitglied der Geheimen Feldpolizei. Einige Tage später fassen ihn die Briten, er wird am 23. Mai Suizid durch eine versteckte Giftkapsel begehen.

Der Schriftsteller Erich Kästner sieht den Tag der Kapitulation mit gemischten Gefühlen. Er wirft den Siegern vor, sich vor dem Krieg zu lange mit den Nazis arrangiert zu haben. "Wer hat denn den Verbrechern die Hand gedrückt statt den Opfern?" Und er ahnt, dass in Deutschland bald keiner mehr mitgemacht haben will. "Die Unschuld grassiert wie die Pest."

In Braunau am Inn, Adolf Hitlers Geburtsort, plündern befreite amerikanische Kriegsgefangene das Stadtmuseum. Auch in Hitlers Geburtshaus steigen die GIs ein und klauen Andenken.

"Das ganze Nest muss brennen"

An den Laternen Prags baumeln die grausig zugerichteten Leichen von Deutschen, die an den Füßen aufgehängt und angezündet wurden. Der junge Tscheche Jan Sklenar kann es dagegen kaum fassen, in den Trümmern des Rundfunkgebäudes den deutschen Beschuss überlebt zu haben: "Rund um mich herum waren überall Leichen. Ich konnte mich aber selbst befreien und habe es geschafft rauszukommen."

In der tschechoslowakischen Hauptstadt haben die Aufständischen nach drei Tagen gesiegt. Der Befehlshaber der Waffen-SS in Böhmen und Mähren, der SS-Gruppenführer Carl Friedrich Graf von Pückler-Burghauss, hatte zuvor gefordert, die Altstadt, eine der schönsten Europas, durch Brandbomben zu vernichten: "Das ganze Nest muss brennen."

Nun kapitulieren die Deutschen teils, teils ziehen sie ab. Viele, die zurückbleiben, trifft die Rache der so lange Unterdrückten. Der Dramatiker Pavel Kohout wird später einmal von einer "Sternstunde der Mörder" sprechen, die faktisch die Vertreibung der Sudetendeutschen einleitet. Die Rote Armee erreicht Prag erst am 9. Mai.

Besäufnis zur Feier des Kriegsendes

Der deutsche Jagdflieger Erich Hartmann weiß, dass der Krieg in wenigen Stunden zu Ende sein wird. Aber in seinem Kopf geht der Krieg einfach weiter. Über Brünn setzt er seine Me 109-Maschine mittags hinter eine sowjetische Yak und schießt sie ab. Es ist sein 352. Luftsieg. Kein anderer Jagdflieger hat im Zweiten Weltkrieg so viele Abschüsse erzielt.

Nach der Landung auf tschechoslowakischem Gebiet ergibt er sich US-Infanteristen, die ihn, gemäß der alliierten Vereinbarungen der Jalta-Konferenz, an die Rote Armee ausliefern. Die sowjetische Justiz verurteilt Hartmann zu 25 Jahren Zwangsarbeit, er wird 1955 zu den letzten deutschen Gefangenen gehören, die aus der Sowjetunion heimkehren.

Hettstedt am Harz. Der polnische Jude Arno Lustiger hat bei den amerikanischen GIs einen guten Freund; der kommt plötzlich und sagt: "Arno, ich habe gerade im Armeesender gehört, dass der Krieg zu Ende ist." Lustiger hat Auschwitz, Buchenwald und zwei Todesmärsche überlebt; Anfang April ist er in einen Wald geflüchtet und von einer amerikanischen Panzerbesatzung gerettet worden.

"Jeder sang die ,Internationale', so wie er es konnte"

Kaum halbwegs bei Kräften, arbeitet er als Armeedolmetscher der US Army; er bekommt eine Waffe und ist in den letzten Wochen des Krieges aufseiten der Befreier. Dieser Rollenwechsel, wird Lustiger viel später sagen, als er längst der wichtigste Chronist des jüdischen Widerstandes ist, "war für mich das Wichtigste vom Wichtigsten". Am Abend des 8. Mai aber gibt es ein allgemeines "Besäufnis zur Feier des Kriegsendes und meines Geburtstages". Am 7. Mai ist er 21 Jahre alt geworden (hier ein Interview von 2011 mit dem inzwischen verstorbenen Arno Lustiger über den Kampf gegen die Nationalsozialisten).

Um 19.29 versenkt die Besatzung von U-3503 vor dem schwedischen Göteborg ihr eigenes U-Boot, indem sie die Flutventile öffnet. Die Boote vom Typ XXI konnten fast unbegrenzt unter Wasser bleiben, sie waren die modernsten der Marine. Diese hatte gehofft, mit Hilfe der Boote die längst verlorene Schlacht im Atlantik noch einmal zu wenden. Nun steigen die Seeleute in Schlauchboote und werden vom schwedischen Zerstörer Norrköping aufgefischt. Der Kapitän, Oberleutnant zur See Hugo Deiring, wird 1970 Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung.

Die meisten der wenigen noch verbliebenen U-Boote waren schon Tage zuvor in der "Operation Regenbogen" von ihren Besatzungen versenkt worden. Der Marinenachrichtendienst sendet am 8. Mai an die deutsche Flotte den Befehl: "Versenkungen von Schiffen und Zerstörungen von militärischen Einrichtungen und nichtmilitärischen Einrichtungen und Anlagen" seien von sofort an "unbedingt zu unterlassen". Andere Einheiten der Armee bekommen die Anweisung, dass nicht mehr mit erhobenem Arm zu grüßen sei, sondern wie früher mit der Hand an der Mütze.

Am Abend des Kapitulationstags erreicht die Rote Armee das Konzentrationslager Theresienstadt in Böhmen. Der Ort ist voller Menschen, die Todesmärsche aus anderen Lagern hinter sich haben. In den Stunden vor der Befreiung hatten abziehende SS-Truppen noch um sich geschossen und Handgranaten geworfen.

"Libau brennt lichterloh"

"Abends um halb zehn die ersten Russen", schreibt die Gefangene Alisah Shek. "Gebrüll und Jubel." Erich Kessler erlebt die Befreiung ähnlich: "Auf einmal hörten wir das Geräusch von fahrenden Tanks und jubelnde Rufe. Das waren die Russen! Wir jubelten ihnen zu und alles sang die ,Internationale', jeder wie er konnte."

Der Arzt Hans Graf von Lehndorff erlebt den 8. Mai in einem sowjetischen Lager bei Königsberg. Vor der Kommandantur steht plötzlich ein "strotzendes Blumenarrangement. Sonst merken wir nicht viel vom Endsieg." Hunger und Kälte beschäftigen die Überlebenden mehr als Politik.

In Libau herrscht Chaos. Ein deutscher Soldat beschreibt die Lage in dem lettischen Küstenort, über dessen Hafen immer noch Tausende deutscher Soldaten vor der Roten Armee fliehen wollen: "Es war der Lauf ums nackte Überleben." Der Berichtende schafft es auf ein rettendes Boot, viele bleiben zurück. Es wird Nacht. Gegen 22.00 Uhr: "Libau brennt lichterloh."

Am 9. Mai 1945, gegen 0:15 Uhr, unterzeichnet Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, im Offizierskasino der Heerespionierschule in Berlin-Karlshorst eine weitere Kapitulationsurkunde. Das ist notwendig, um das Dokument von Reims zu ratifizieren. Jetzt sind alle Unterschriften beisammen. Der Krieg ist beendet. Bei den siegreichen Rotarmisten in der Stadt bricht tosender Jubel aus, viele feuern Freudenschüsse ab und öffnen Wodkaflaschen.

"Der Krieg ist aus", sagt im befreiten Konzentrationslager Dachau ein polnischer Arzt zu Martha Gellhorn. "Deutschland ist besiegt", sagt er noch. Die amerikanische Reporterin hat seit dem Spanischen Bürgerkrieg Mitte der Dreißigerjahre von vielen Fronten berichtet, zuletzt war sie bei der Schlacht um die Ardennen zur Jahreswende 1944/45 dabei und ist in einem Black Widow-Nachtjäger der US Air Force über Deutschland mitgeflogen. Sie fühlt sich sehr müde, und das Grauen von Dachau hat ihr, die sie so viel gesehen hat, die Sprache verschlagen.

In ihrer Reportage schreibt sie: "Wir saßen in diesem Zimmer, in diesem verfluchten Friedhofsgefängnis, und niemand hatte noch etwas zu sagen. Dennoch erschien mir Dachau als der passendste Ort in Europa, um die Nachricht vom Sieg zu hören. Denn gewiss wurde dieser Krieg geführt, um Dachau und alle anderen Orte wie Dachau und alles, wofür Dachau stand, abzuschaffen, und zwar für alle Zeiten."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: