Süddeutsche Zeitung

75 Jahre Zweiter Weltkrieg:"Ich habe die schwärzeste Seite des Krieges erlebt"

Władysław Bartoszewski war 17, als die Deutschen seine polnische Heimat überfielen. Er überlebte Auschwitz, kämpfte im Warschauer Aufstand und wurde später Außenminister. Der SZ erzählt er vom Grauen des Krieges und von dummen deutschen Besatzern.

Von Klaus Brill und Detlef Esslinger

Władysław Bartoszewski ist 1922 in Warschau in eine bürgerliche Familie geboren worden. Als katholischer Publizist, Historiker und Politiker engagiert er sich seit langem für die Aussöhnung zwischen Polen und Deutschland.

Bartoszewski erinnert sich im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung an das Geschehen vor mehr als sieben Jahrzehnten, an die Zeit vor dem Krieg, den Überfall auf seine Heimat und Erfahrungen mit den Deutschen, die ein brutales Besatzungsregime in Polen errichteten.

Schon in der Schule hat sich Bartoszewski mit der aggressiven Außenpolitik Hitler-Deutschlands beschäftigt. Im Herbst 1938 sprachen die Westmächte Frankreich und Großbritannien bei der Münchner Konferenz (hier mehr dazu) dem Nazi-Reich die tschechoslowakischen Sudetengebiete zu - ohne die Regierung in Prag zu fragen. Es war ein untauglicher Versuch des britischen Premierministers Neville Chamberlain und seines französischen Amtskollegen Édouard Daladier, den deutschen Diktator Adolf Hitler zu beschwichtigen. Bartoszewski erzählt heute, dass ihm das Scheitern der Appeasement-Politik schon damals klar gewesen sei.

"Wir 16-jährigen Burschen haben damals gesagt: Chamberlain ist ein totaler Idiot, Daladier ist ein totaler Idiot. Hitler hat sie in die Irre geführt, der Krieg wird kommen."

Wenige Monate später ließ Hitler die Wehrmacht nach Prag einmarschieren und erklärte Böhmen und Mähren zum "Reichsprotektorat" (hier mehr dazu). Die Slowakei wurde abgetrennt und ein deutschlandhöriger Satellitenstaat, dessen Soldaten am 1. September 1939 den Deutschen beim Einmarsch in Polen halfen.

Am Tag, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Bartoszewski bei den Eltern in Warschau. Der Abiturient hatte nicht viel zu tun: Der 17-Jährige wartete darauf, im Oktober seinen Militärdienst zu beginnen.

"An jenem Tag hat meine Mutter mich geweckt, da war der Warschauer Flughafen Okęcie bombardiert worden, wir wohnten in der Nähe. Dann haben wir den Hörfunk eingeschaltet und den Aufruf des Staatspräsidenten gehört: Der ewige Feind hat unsere Grenze überschritten."

Warschau wurde bald von deutschen Truppen eingeschlossen und von der Luftwaffe bombardiert. Binnen 18 Tagen starben mehr als 20 000 Zivilisten.

"Ich habe mich bei einem Krankenhaus gemeldet, zu zweit sind wir dann mit einer Tragbahre dorthin gelaufen, wo die Bomben gefallen waren, und haben die Verwundeten zur Klinik gebracht. Ich habe die schwärzeste Seite des Krieges erlebt: Verwundete, Sterbende, Leichen, Gräuel. Für einen 17-jährigen Burschen war das erschütternd. Einmal wurde mir eine alte Frau auf der Bahre durch eine Maschinengewehrsalve aus einem Sturzkampfbomber getötet."

Warschau kapitulierte schließlich, danach rückte die Wehrmacht ein. Am 5. Oktober nahm Hitler eine Siegesparade in der polnischen Hauptstadt ab. Bartoszewski weinte damals, sagt er. Für ihn sei es "das Ende der Welt" gewesen.

Bartoszewski schloss sich dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer an. Sein Engagement rettete zahlreiche Juden vor der Vernichtung. Die Deutschen nahmen ihn fest und hielten ihn im Stammlager des KZ Auschwitz fest, aus dem er im April 1941 schwer krank entlassen wurde. 1944 nahm er am Warschauer Aufstand teil, der nach 63 Tagen von der Wehrmacht blutig niedergeschlagen wurde und der die totale Zerstörung der polnischen Hauptstadt zur Folge hatte.

Bartoszewski kämpfte leidenschaftlich gegen die deutschen Besatzer, deren Kultur er kannte, schätzte und deren Sprache er beherrschte. Er habe damals "die Verdummung des normalen Deutschen und auf der anderen Seite die deutsche Kultur" gesehen, sagt Bartoszewski heute.

"Bei einer Hausdurchsuchung 1944 (...) hat eine Streife der Sicherheitspolizei in meinem Schrank deutsche Bücher gesehen, ich war damals 22 Jahre alt.

'Also lesen Sie deutsch?'

'Ja, ein bisschen.'

'Was ist das?'

Es war eine alte Ausgabe von Heine.

'Ein deutscher Volksdichter', meinte ich.

'Nicht, dass ich wüsste', sagte der Mann.

Da hab ich (aus der "Loreley") rezitiert: 'Die Luft ist kühl und es dunkelt, und ruhig fließt der Rhein. Der Gipfel des Berges funkelt im Abendsonnenschein.'

'Ah, ein Volkslied', sagte er.

'Nein, von Heine!'

Heinrich Heine war Jude und unter den Nazis verfemt, doch seine Werke wie "Die Loreley" (hier der Text, aus dem Bartoszewski zitierte) wurden auch im Dritten Reich weiterverbreitet -allerdings mit dem Hinweis, dass der Verfasser unbekannt sei.

Bartoszewski würdigt die Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland: Die Deutschen hätten die Verbrechen anerkannt, die sie an der polnischen Bevölkerung verübt wurden. Anerkennung der Schuld und die Bereitschaft zur Versöhnung seien Bedingung der Normalität. "Die Anerkennung der Schuld hat mehrmals stattgefunden. Man kann das abschließen, aber nicht vergessen."

Kritisch denkt der Zeitzeuge über Russland und die Reflektion über die Rolle der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Bartoszewski nennt den Hitler-Stalin-Pakt, in dem die Diktatoren Polen unter sich aufteilten.

"Die Deutschen leugnen ihre Verbrechen nicht, die Russen weichen auf unterschiedlichste Weise aus. Das ist die Dialektik Mephistos. Allerdings: Die Russen als ganzes Volk tragen keine Schuld. Hitler war gewählt, Lenin war nicht gewählt, Stalin war nicht gewählt. Wir unterscheiden: das arme russische Volk auf dem Niveau, auf dem es damals war, und die Deutschen, ein Kulturvolk."

Nach dem Krieg hatte Bartoszewski sieben Jahre in stalinistischen Gefängnissen in Polen verbracht, als seine Heimat unter dem Einfluss Moskaus stand. Polen habe Angst vor imperialem Denken, egal, wessen Denken das sei. "Wir haben Angst aus alter Erfahrung, nicht aus negativer Voreingenommenheit", sagt er und verweist auf die schwelende Krise in der Ukraine.

"Uns ängstigt das Denken in der Kategorie 'Wir haben Sonderrechte im nahen Ausland'. Die Krim ist für Russland 'nahes Ausland', Weißrussland ist 'nahes Ausland', Litauen, Estland, Lettland sind 'nahes Ausland'."

Bartoszewski warnt davor, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu unterschätzen. Deutsche und Polen sollten nicht naiv sein.

"Putin ist viel klüger, als viele Politiker im Westen denken. Putin ist ein Spieler der alten KGB-Schule. Er ist kein Stalinist, aber er ist im korporativen Denken erzogen, und er ist sehr sachkundig in deutschen und in polnischen Angelegenheiten."

Władysław Bartoszewski ist nach wie vor in der Politik tätig. Seit einigen Jahren ist der inzwischen 92-Jährige als Staatssekretär im Amt des nun scheidenden polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk zuständig für die deutsch-polnischen Beziehungen. Zuvor hatte er als Botschafter in Wien und zweimal als Außenminister fungiert.

Bartoszewski erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem das Bundesverdienstkreuz. Für seinen Einsatz bei der Judenrettung während des Zweiten Weltkriegs wurde er in Israel als "Gerechter unter den Völkern" geehrt.

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