Süddeutsche Zeitung

Nahostkonflikt:Ein Staat Israel um jeden Preis

70 Jahre nach seiner Unabhängigkeit ist Israel allzeit bereit zu kämpfen. Doch diese Kampfbereitschaft, die hohe Opferzahl und die Verhärtung im Land gefährden die Demokratie.

Kommentar von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Theodor Herzl hatte eine Vision, er glaubte unerschütterlich an sie: "Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben, und sie werden ihn verdienen", schrieb er 1896 in seinem Buch vom "Judenstaat". 44 Jahre nach Herzls Tod wurde die Vision zur Wirklichkeit: Am 14. Mai 1948 unterzeichneten David Ben Gurion und 36 Mitstreiter Israels Unabhängigkeitserklärung. Nach dem jüdischen Kalender ist das diesen Donnerstag 70 Jahre her.

Israel hat allen Grund zum Feiern. Die Israelis würdigen ihr Land in diesen Tagen auf bezeichnende Weise: Erst geht es zu den Gräbern der gefallenen Soldaten, dann wird Israel 70 Stunden lang zu einer riesigen Partyzone - unterbrochen vom Schabbat.

Das Land, in dem sich nach dem Weltkrieg die Überlebenden des Judenmordes sammelten, hat alle Vernichtungsversuche überstanden. Mehr noch: Es hat sich wirtschaftlich prächtig entwickelt; aus dem agrarisch geprägten Land ist eine viel bestaunte Start-up-Nation geworden. Sie ist, wenn auch mit Einschränkungen, eine funktionierende Demokratie, die einzige im Nahen Osten.

Deshalb sind Bemühungen der Regierung so alarmierend, die Macht des Obersten Gerichts einzuschränken. Es ist der Versuch, Gewaltenteilung auszuhebeln, um Kabinettsentscheidungen auf jeden Fall durchsetzen zu können. Das wirft ein schlechtes Licht auf die Regierung angesichts möglicher Prozesse gegen den unter Korruptionsverdacht stehenden Premierminister Benjamin Netanjahu. Das untergräbt den Staat, so, wie der zunehmende Einfluss der Ultraorthodoxen den Staat untergräbt, den viele von ihnen nicht einmal anerkennen. Die Arbeit der Journalisten unterliegt Militärzensur; Netanjahu setzt sich nicht gerne Fragen aus.

700 000 Palästinenser wurden vertrieben oder mussten fliehen

David Ben Gurion, der Staatsgründer, hat ebenfalls Fragen verdrängt. Zum Beispiel die, was mit den Palästinensern wird, die auf dem Gebiet des künftigen Staates leben. Ungefähr 700 000 von ihnen wurden vertrieben oder mussten fliehen; was für Israel der Unabhängigkeitskrieg war, wurde für die Palästinenser Nakba, die Katastrophe. Ben Gurions Credo "ein Staat um jeden Preis" heißt: ein Staat auf Kosten der Palästinenser.

Von Anfang an war Israel ein bedrohter Staat. Noch in der Gründungsnacht erklärten fünf arabische Länder Israel den Krieg. "Sein Schicksal ruht in den Händen der Sicherheitskräfte", schrieb Ben Gurion in sein Tagebuch. In diesem Kampfmodus ist das Land geblieben, in immerwährender Angriffs- und Verteidigungsbereitschaft: Nie wieder sollen Juden Opfer sein.

Mit den Nachbarstaaten Libanon und Syrien befindet sich Israel in einer Art permanentem Kriegszustand; mit Ägypten und vor allem Jordanien gibt es Spannungen, trotz eines Friedensvertrags. Als große Bedrohung wird Iran empfunden, der sich in Syrien und in Libanon, also in Israels unmittelbarer Nachbarschaft, ausbreitet. Die Hisbollah und die Hamas in diesen beiden Ländern und Iraner stellen das Existenzrecht Israels offen infrage.

Die jüngsten Angriffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs in Syrien waren nur auf das Chemiewaffenpotenzial und nicht auf iranische Stellungen gerichtet. Sie haben in Israel das Gefühl des Alleingelassenwerdens verstärkt, das im kollektiven Gedächtnis seit der Schoah verankert ist.

Zum festen Bestandteil der Feiern zur Staatsgründung gehört die Luftwaffen-Airshow. Sie soll der Welt - besonders der arabischen - zeigen: Israel ist allzeit bereit zu kämpfen. Diese Haltung haben fast alle Israelis und viele Juden außerhalb des Landes verinnerlicht: Es gibt ein Land, in dem wir notfalls Schutz finden vor der Judenfeindschaft. Auch deshalb gilt ihnen Kritik an Israel rasch als Antisemitismus.

Seit 2006 gab es vier Kriege, drei davon zwischen Israel und den Palästinensern, jüngst wieder Auseinandersetzungen rund um den Gazastreifen. Israelische Soldaten haben in den vergangenen drei Wochen 34 Palästinenser erschossen, die auf der anderen Seite des Grenzzauns waren. Das ist der Preis einer Politik, die Sicherheit und militärische Stärke über alles stellt: Die Zahl ihrer Opfer steigt. Und so nimmt die Verhärtung im Land zu, die langfristig Israels Existenz als freies Land genauso gefährden könnte wie Raketen und Hass der Hisbollah und der Hamas.

Es liegt auch in der Hand Israels, Frieden mit den Palästinensern zu ermöglichen. Es ist keine Lösung, zur dauerhaften Besatzungsmacht im Westjordanland zu werden und die Menschen im Gazastreifen einzusperren. Der von den EU-Staaten weiter geforderten Zweistaatenlösung stehen inzwischen 600 000 jüdische Siedler im Westjordanland im Weg. Ein binationaler Staat mit gleichen Rechten und Pflichten für Israelis und Palästinenser würde aufgrund der demografischen Entwicklung dem Selbstverständnis vom jüdischen Staat widersprechen. Und ein Apartheidsstaat wäre keine Demokratie mehr.

Die Lösung könnte ein föderales System sein, um eine Koexistenz von Israelis und Palästinensern zu ermöglichen. Doch um das umzusetzen braucht es einen Visionär - einen wie Theodor Herzl.

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SZ vom 19.04.2018/jsa
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