70 Jahre Grundgesetz:Volksbegegnung

200 Bürger packen auf Einladung des Bundespräsidenten im Schlosspark Bellevue die Themen auf den Kaffeetisch, die sie bewegen.

Von Nico Fried, Julian Erbersdobler, Berlin

70 Jahre Grundgesetz: Auch Angela Merkel ist der Einladung des Bundespräsidenten gefolgt.

Auch Angela Merkel ist der Einladung des Bundespräsidenten gefolgt.

(Foto: Odd Andersen/AFP)

Die Spitze des Staates steigt von oben herab. Dieser Eindruck lässt sich schon allein aufgrund der Topografie des Schlossparks schwer vermeiden. Um kurz nach 14 Uhr treten der Bundespräsident und seine Gattin mit den restlichen Spitzen der Verfassungsorgane auf die Terrasse hinter dem Bellevue. Unten auf der Wiese wartet das Volk: 200 Bürgerinnen und Bürger. Frank-Walter Steinmeier hat sie eingeladen, mit Kaffee, Kuchen und einer Diskussion den 70. Geburtstag des Grundgesetzes zu feiern. Die Gäste applaudieren freundlich, aber es sind wahrscheinlich nicht nur die etwa 30 Meter Strecke, die hier zwischen Volk und Staat noch an Distanz zu überwinden sind.

"Wir feiern das Grundgesetz, indem wir es auf die Probe stellen", sagt Steinmeier

Steinmeier setzt mit dieser Veranstaltung einen Satz um, den er in seiner Begrüßungsrede aufgreift: "Im Grundgesetz steht nicht: 'Alles Gute kommt von oben', sondern 'Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.'" Deshalb wolle er diesen Tag mit Gesprächen begehen. Er hat dazu Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeladen, den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle und den amtierenden Bundesratspräsidenten, Schleswig-Holsteins Regierungschef Daniel Günther. Er wünsche sich eine "freie und lebendige Debatte unter Bürgern", sagt Steinmeier. "Sprechen wir mit Menschen, die anderer Meinung sind. Sprechen wir mit Menschen über den Gartenzaun der eigenen Lebenswelt hinweg." Im Schlosspark stehen 22 Tische mit je zehn Stühlen. Die Sonne scheint bei 18 Grad, Wolldecken liegen bereit, es gibt Kuchen und Obst, Meissener Porzellan. Die Gäste haben sich bei Regionalzeitungen beworben oder wurden ausgesucht, weil sie Leserbriefschreiber sind. Andere haben dem Bundespräsidenten direkt geschrieben. Die Diskussionsleiter an den Tischen sind Profis, wie Sandra Maischberger und Giovanni die Lorenzo, oder einfach prominent wie der Sänger Roland Kaiser und der Regisseur Sönke Wortmann. Auch Bundestagsvizepräsidenten führen Debatten, Thomas Oppermann (SPD) schenkt an seinem Tisch jedem Gast eine Hosentaschenausgabe der Verfassung.

"Wir feiern das Grundgesetz, indem wir es auf die Probe stellen", sagt Steinmeier. "Frei von der Leber weg" solle gesprochen werden. "Packen Sie auf den Tisch, was Ihnen auf der Seele brennt." Am häufigsten werde ihm die Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft gestellt, so der Bundespräsident. Wer sich zurückziehe, bleibe "mit seinen Fragen allein". Das Gefühl der Ohnmacht sei aber Gift für die Demokratie, auch weil sich Populisten dann "solche Gefühle perfide zunutze" machten.

Frei von der Leber weg soll jeder reden - die Themen reichen von Patriotismus bis Dieselskandal

Die Gäste im Schlosspark kommen aus dem ganzen Land. Sie sind, so berichtet es der Bundespräsident, zwischen 15 und 85 Jahre alt, drei von ihnen feiern am selben Tag wie das Grundgesetz ihren 70. Geburtstag. Eine Polizistin ist dabei, ein Schlachtermeister, Sänger, Ordensschwestern. Ein Zollbeamter ist gekommen, dessen Vater als erster türkischer Gastarbeiter in Viersen eine neue Heimat fand; ein Berufssoldat, der in Afghanistan und in Kosovo im Einsatz war; ein Psychotherapeut, der zu DDR-Zeiten im Gefängnis saß und heute auch ehemalige Stasi-Leute unter seinen Patienten hat; ein Geschwisterpaar aus Syrien, das nach Deutschland fliehen konnte.

Knapp zwei Stunden später: Steven Siebert, 23, Kameramann, hat ein breites Grinsen im Gesicht. Er saß einige Zeit direkt neben Andreas Voßkuhle. "Das Gesicht kannte ich aus dem Fernsehen", sagt er. Siebert kommt aus Pirna, Sachsen. Ganz in der Nähe von Heidenau, wo es 2015 zu massiven fremdenfeindlichen Protesten gegen eine neu eröffnete Flüchtlingsunterkunft kam. Heute wohnt er in Berlin, er nennt es eine Flucht aus dem engen Korsett. Viele seiner Verwandten wählen die AfD, erzählt er. "Meine Oma hat geweint, als sie die Einladung zu diesem Treffen gesehen hat." Niemand habe gedacht, dass der Enkel einmal Angela Merkel treffen würde. Siebert hatte sein Anliegen direkt an das Bundespräsidialamt geschrieben: "Politik hat sich immer mehr von den Menschen entfernt." Darüber hat er auch mit Voßkuhle gesprochen. Das Wichtigste sei, dass man miteinander spreche, und nicht übereinander. Als die Einladung kam, hatte Siebert noch Zweifel, wie nahe er den Politikern an diesem Tag wirklich kommen wird. Jetzt zeigt er auf Wolfgang Schäuble, der höchstens zehn Meter von ihm entfernt an einer schön gedeckten Tafel sitzt, und sagt: "Ich könnte jetzt zu ihm rübergehen und mit ihm sprechen." Angelika Kott, 42, Immobilienkauffrau, ist mit dem Zug aus Dresden angereist. An ihrem Tisch ging es um Migration. "Da saßen alle Altersstufen, von 19 bis 75." Mittendrin die ARD-Moderatorin Sandra Maischberger, sie ist immer noch in ein Gespräch mit einem Mann vertieft. Das Schönste, erzählt Kott, war es, die vielen Politiker so nah zu erleben. "Die meisten kenne ich nur aus dem Heute Journal." An vielen Tischen wurden die gleichen Themen verhandelt. Gesundheit, Pflege, Rente. Aber auch der Umgang mit der AfD. Andreas Voßkuhle nennt hinterher die Bereiche Bildung und Föderalismus. Merkel sagt, es sei auch darüber gesprochen worden, wie man "schlechte Stimmung in konstruktives Handeln verwandeln" könne. Die Idee der Veranstaltung scheint jedenfalls aufgegangen zu sein. Die Distanz wurde überwunden. Das dürften insbesondere jene Gäste gespürt haben, die noch ein Selfie mit der Kanzlerin ergattern konnten.

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