Süddeutsche Zeitung

68er-Bewegung:Wie aus friedlichem Protest Terror wurde

Teile der Revolte von 1968 beließen es nicht beim Aufbegehren. Ihre Aktionen gipfelten im linken Terrorismus.

Von Olivia Kortas

"Zerschlagt das kapitalistische System, es lebe die sozialistische Weltrevolution. Wann brennt das Brandenburger Tor? Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?", schrieb Thorwald Proll, 26, Germanistikstudent, in sein grünes Notizbuch. Die Polizisten lasen die Zeilen, nachdem in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 gegen Mitternacht in zwei Frankfurter Kaufhäusern vier Brandsätze entflammten.

Thorwald Proll war zuvor mit Horst Söhnlein und den späteren Gründern der terroristischen Vereinigung Rote Armee Fraktion (RAF), Andreas Baader und Gudrun Ensslin, nach Frankfurt am Main gefahren. Die Gruppe baute und legte die Bomben aus benzingefüllten Plastikflaschen und Uhrwerken. Schaden: 670 000 Mark, keine Verletzten. Noch nicht.

Für Thorwald Proll, heute 75, Schriftsteller, käme ein telefonisches Interview mit der SZ zu diesem Thema nicht in Frage. "Auch weil der Gegensatz zwischen Protest und Gewalt, den Sie herausfinden wollen, sich für mich nicht stellt", begründet er per E-Mail auf eine Anfrage.

"Man musste sich entscheiden, entweder Bluterguss oder Friedenskuss, Schlagstock oder Knüppel aus dem Sack. Das Spiel mit der Macht mitspielen, oder mit Macht spielen", antwortet er stattdessen schriftlich. Die Frage: Wieso schlug der friedliche, mitunter ziemlich selbstironische Protest der 60er-Jahre in Gewalt und Terror um?

Brandsätze und Waffen fielen nicht von heute auf morgen in die Hände der Demonstranten. Der Terrorismus entwickelte sich langsam in kleinen Dissidentenkreisen. Lange vor den Kaufhausbränden in Frankfurt stichelten die Köpfe der 68er-Revolte in einem satirischen, aggressiven Ton. Worte wie "Anschlag" und "Attentat" verliehen ihren Flugblättern den nötigen Skandal, verliehen ihnen öffentliche Aufmerksamkeit. Doch als der Umsturz nicht kam und politische Erfolge der Protestbewegung ausblieben, spalteten sich Kleingruppen ab. Ihre Ziele wollten sie mit Gewalt durchsetzen. Und töteten von 1971 bis zur RAF-Auflösung am 20. April 1998 mindestens 30 Menschen.

"Ansätze zur Gewaltanwendung waren schon früh im Gedankengut der 68er-Bewegung vorhanden", sagt Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und einer der führenden RAF-Experten, "bereits im Februar 1966 sprach Rudi Dutschke, der charismatische Wortführer der Studentenbewegung, als Erster auf einer Versammlung von einer Stadtguerilla." Dutschke war der Kopf des Verbands Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS), dem geistigen und praktischen Motor der Bewegung.

Seine Frau allerdings, Gretchen Dutschke, fühlt ihren 1979 an den Spätfolgen eines Attentats verstorbenen Mann von Kraushaar falsch verstanden: Rudi Dutschke habe immer klar unterschieden zwischen Gewalt gegen Personen und gegen Sachen. Tatsächlich blieb Dutschke aber in der Frage des "Tyrannen-Mordes" indifferent, wie Kraushaar im Fall eines geplanten Attentats auf den Schah nachwies.

"Kritik muss in Aktion umschlagen"

Dabei hatte alles so friedlich angefangen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft leckte gerade noch an ihren Kriegswunden, klammerte sich nach Jahren der Armut an ihren mühsam erarbeiteten Wohlstand. Neue Autos, feminine Petticoats, gutes Benehmen und Anstand. Was würden sonst die Nachbarn sagen? Da tauchten in den Großstädten Ende der 50er-Jahre Männer und Frauen in abgewetzten Jeans auf. Sie ließen ihre Haare wachsen und rauchten Haschisch.

Inspiriert von amerikanischen Autoren brachen diese jungen Menschen aus dem Arbeitsalltag aus, wendeten sich ab von Materialismus und Profitgier. Sie genossen die misstrauischen Blicke der Adenauer-Gesellschaft. In München gründete sich zu dieser Zeit die Künstlergruppe Spur. Sie verhöhnte die prüden Sexualvorstellungen und gesellschaftlichen Werte. "Boykottiert alle herrschenden Systeme und Konventionen, indem Ihr sie nur als mißratene Gaudi betrachtet", schrieb Spur in einem Manifest.

Gaudi also. Die Ära der Aktionisten konnte beginnen. Spur vermischte Kunst mit Politik, Malerei mit Marxismus. Ihr provokantestes Mitglied Dieter Kunzelmann gründete wenig später die Gruppe Subversive Aktion. Kunzelmanns Ziel war einfach: Die Gesellschaft sollte sich grundlegend verändern, die inneren Triebe befreien. "Kritik muss in Aktion umschlagen. Aktion entlarvt die Herrschaft der Unterdrückung", hieß ihr Credo.

Die Subversive Aktion lebte es vor: Kommune statt Familie, Partnertausch statt sexueller Verklemmtheit, Ausstieg aus dem Leistungsdruck der Universitäten. Ein Teil der Subversiven Aktion nannte sich Anschlaggruppe. Der Name ihrer Zeitschrift? Anschlag. Mittlerweile gingen Tausende Studierende und Anhänger der Protestbewegung Außerparlamentarische Opposition (APO) auf die Straßen. Sie protestierten gegen die Intervention der USA in Vietnam und gegen die Einführung der Notstandsgesetze.

"Der Ursprung des linken Terrorismus Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre lag in meinen Augen in der Subversiven Aktion, aus der die Kommune I hervorging", sagt Kraushaar. "Ihre provokativen Aktionen und phantasievollen Demonstrationsformen hatten einen enormen Öffentlichkeitserfolg. Nach anfänglichen Widerständen setzten sie sich damit auch im SDS durch." Als Zielscheiben dienten den Aktionisten Professoren, Politiker und Autoritäten, die in der öffentlichen Kritik standen.

So etwa US-Vizepräsident Hubert Humphrey. Pudding, Mehl, Farbe in Beuteln brachten die Nation in Aufruhr. Mit einem Pseudo-Attentat am 6. April 1967 wollten die Antiautoritären Humphrey in Deutschland begrüßen - als Protest gegen den Vietnamkrieg. Es wäre die erste Aktion der politisch motivierten Wohngemeinschaft Kommune I gewesen, doch die Polizei nahm die acht "Attentäter" in Gewahrsam. Mit dabei: Dieter Kunzelmann, der die Kommune I mitbegründet hatte.

Nach dem 2. Juni 1967 schlug die Stimmung um

Nach einer Zäsur fand die Revolte bundesweit Unterstützer und wurde gewaltbereiter: Wenige Monate nach Humphrey besuchte der persische Schah Reza Pahlavi Deutschland. Auch er war den Studierenden ein Dorn im Auge, sie demonstrierten gegen sein Regime und den Besuch. Die Proteste am 2. Juni 1967 eskalierten, ein Polizist tötete den Studenten Benno Ohnesorg durch einen Kopfschuss aus geringer Entfernung.

Noch am selben Abend diskutierte der SDS über die eigene Bewaffnung. Mitglieder der Studentenbewegung und der APO waren davon überzeugt, dass sie sich gewisse Sachen nicht mehr gefallen lassen sollten. Nach dem Tod Ohnesorgs gewannen die Aktionisten im SDS die Oberhand. Und ihr zuvor satirisch aggressiver Ton schlug in Taten um.

"Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabeizusein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen", texteten Rainer Langhans und Fritz Teufel, Mitglieder der Kommune I. Das oft zitierte Flugblatt veröffentlichten sie nach einem Kaufhausbrand in Brüssel am 22. Mai 1967, bei dem 322 Menschen starben.

Die Zeilen brachten sie mit dem Gesetz in Konflikt. Ihr Verteidiger: Horst Mahler. Die Richter sprachen Langhans und Teufel frei, sie erkannten die "satirische Note" ihrer Schrift. Zwölf Tage nach dem Urteil brannten zwei Kaufhäuser in Frankfurt, weil die Vierergruppe um Proll, Söhnlein, Ensslin und Baader Brandsätze legte. Die Umsetzung des satirischen Flugblatts. "Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen", zitiert Thorwald Proll heute Karl Marx und fügt hinzu: "Diese Prophezeiung trat 1967 ein, denn das war und tat die Studentenbewegung."

Knapp ein Jahr, nachdem sich Thorwald Proll der Polizei gestellt hatte, durfte er das Gefängnis vorzeitig verlassen. Nach der Haftstrafe konzentrierte er sich aufs Schreiben, publizierte mehrere Bücher. Er hatte keinen Kontakt zu Baader und Ensslin mehr. Mit der Entwicklung seines Leben scheint er zufrieden zu sein: "Verachtet habe ich in meiner Jugend, Bonze und/oder Kapitalist zu werden. Ich bin es im Alter auch nicht geworden. Insofern habe ich dem Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht", schreibt er.

Während Proll mit keiner weiteren politisch motivierten Tat in die Öffentlichkeit rückte, formten sich aus Mitgliedern der Kommune I die ersten Gruppierungen wie die Tupamaros West-Berlin und Tupamaros München. Sie gingen in den Untergrund, noch bevor sich 1970 die RAF gründete. Später schlossen sich kleine gewaltbereite Gruppen zu der linken Terrorvereinigung Bewegung 2. Juni zusammen. Die Mitglieder verübten Bombenattentate und entführten führende Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik.

Die Zeit des "linken Terrorismus" scheint zumindest in Deutschland seit fast zwei Jahrzehnten vorbei zu sein. Doch ein paar Ex-RAF-Leute sind noch immer auf der Flucht. Inzwischen im Rentenalter fielen sie in den vergangenen Jahren weniger durch ideologiegeleitete Aktionen auf als durch Raubzüge und Überfälle. Höchstwahrscheinlich dienten sie ihnen lediglich zur eigenen Existenzsicherung. Was für ein Ende für einen Aufbruch gegen jegliche Konventionen - und Kampf für die "gute Sache".

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