60. Todestag von Josef Stalin:Meister der Schuld

60. Todestag von Josef Stalin: Allgegenwärtig: Viele Russen gedenken an diesem Tag Josef Stalin.

Allgegenwärtig: Viele Russen gedenken an diesem Tag Josef Stalin.

(Foto: AFP)

Stalins Sowjetunion war Siegermacht und Diktatur zugleich, nach außen stark, im Inneren zerrüttet. 60 Jahre nach Stalins Tod hat sich Russland noch nicht erholt - die Aufarbeitung fehlt, doch das Trauma ist sichtbar.

Ein Gastbeitrag von Michael Schindhelm

"Er ist gestorben, der asiatische Diktator! Abgeschrappt, der Bösewicht! Hier aber stehen russische Mädchen und schluchzen hemmungslos. Wie schön wäre es, ihnen über den Platz hinweg zuzurufen: na und? Dafür wird man eure Eltern nicht mehr erschießen! Ich habe Lust zu johlen. Doch wehe, die Ströme der Geschichte fließen langsam. Und so setze ich meinem bestens trainierten Gesicht die Grimasse gramvollen Lauschens auf. Einstweilen - verstell dich wie gewohnt."

So hat sich Alexander Solschenizyn, der Dissident und Nobelpreisträger, in seinem Jahrhundertwerk Der Archipel Gulag an den Tod Josef Stalins am 5. März 1953 erinnert. Bei der Aufbahrung der Leiche im Gewerkschaftshaus in der Moskauer Innenstadt starb eine unbekannte Anzahl Menschen im Gedränge. Die Gemüter waren gespalten zwischen Frohlocken und Entsetzen. Zu groß war das Leiden für die einen, der Ruhm für die anderen gewesen. Man ließ sich Zeit, die Toten und die Leidtragenden von nahezu 30 Jahren Terror zu rehabilitieren. Der Sowjetbürger trug bald wieder die Maske der Indifferenz.

Herrscher mit eiserner Faust

Jüngst hat der russische Vizepremier Dmitrij Rogosin angeregt, die Stadt Wolgograd in Stalingrad zurückzutaufen. "Ich halte das für eine gute Idee, auch aus wirtschaftspolitischen Erwägungen", twitterte Medwedjews Stellvertreter. Popularitätsumfragen zufolge genießt Stalin ein stabil hohes Ansehen in Russland, während Gorbatschow am untersten Rand der Skala rangiert. Wann immer die autoritäre Ordnung auf dem Spiel stand, während der Perestroika oder Boris Jelzins Entstaatlichungsprojekten, in Währungskrisen und nach Bombenattentaten, träumten Millionen Russen von einem neuen Herrscher mit eiserner Faust, der den Plunder der westlichen Demokratie abräumen würde.

Allerdings gibt es auch triftige rationale Argumente. Stalin steht für den Sieg über den Hitlerfaschismus. 22 Millionen Opfer hat der Große Vaterländische Krieg gekostet. Zum Tag des Sieges am 9. Mai versammeln sich noch immer die Veteranen und demonstrieren den Stolz einer Generation, die sich als Erfüller einer Weltmission verstanden hat.

30 Jahre systematische Menschenvernichtung

Solschenizyn mag gewusst haben, dass es nicht so leicht sein würde, den Bösewicht zu entlarven. Als 1974 der KGB das Archipel-Manuskript entdeckte, musste der Schriftsteller dies mit Ausbürgerung bezahlen. Zehntausende folgten, nach Israel, Deutschland, in die USA. Sie ließen ein zerrissenes Land zurück. Stalin war ein genialer Meister der Schuld gewesen, und dieses Talent erwies sich als ein langlebiger Fluch. Wen er heute mit blutigen Geschäften betraute, der kam morgen selbst in ihnen um. Täter wurden zu Opfern, Opfer zu Tätern.

Stalins Sowjetunion war nach außen eine Siegermacht, nach innen, tief drinnen, eine Gesellschaft, in der Gut und Böse, Himmel und Hölle ununterscheidbar geworden waren. Jede Familie hatte hochdekorierte Soldaten und ausgestoßene Lagerhäftlinge vorzuweisen, Tote und Überlebende. Ein dämonisches Schweigen breitete sich aus über 30 Jahre systematischer Menschenvernichtung.

Zu erschöpft, um Aufarbeitung zu leisten

Auch nach dem Ende des Kommunismus lässt sich das Schweigen nicht so einfach brechen. Zwar gab und gibt es Bürgerbewegungen, die sich um Aufarbeitung bemühen. Aber nicht nur, dass sich die meisten Archive in den Händen der Staatsmacht befinden - auch das Gefühl der Schande über das entsetzliche Erbe der Gulags sitzt tief. Die öffentliche Auseinandersetzung um Stalin und seine Ära ist daher seit Langem im stummen Patt erstarrt. Anhänger und Ankläger des Generalissimus liegen in einem Stellungskrieg, in dem Tote gegen Tote aufgewogen werden, deren Leben und Sterben immer weiter im Nebel der Vergangenheit verschwindet. So scheint die russische Gesellschaft infolge der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach Krieg und Stalin-Herrschaft, zu erschöpft zu sein, um ihre Geschichte zum Leben zu erwecken.

Nur, tot ist diese Geschichte ebenso wenig - und Geschichte, die weder tot ist noch lebendig, ist untot. Josef Stalin ist der Zombie dieser Geschichte. Er gibt das Phantom einer kollektiven Psychose ab, die auch in jüngeren Generationen fortgewirkt hat. Psychosen sind seelische Schäden, die mit sozialen Beeinträchtigungen einhergehen, wobei Ursache und Wirkung oft nicht auseinanderzuhalten sind. Deshalb sind weder mit Stalins Tod die Gespenster vertrieben worden, noch hat sich mit dem Abbruch des von ihm durchgeführten Experiments des Homo Sovieticus die Psychose zurückgebildet. Tschernobyl, Afghanistan, Tschetschenien: An Katastrophen gab es auch in der jüngeren Vergangenheit keinen Mangel.

Untergang eines Reichs, das auf Ewigkeit angelegt war

Besonders dramatisch mag sich für die Russen das Ende der Sowjetunion gestaltet haben. Während einige der früheren Sowjetrepubliken diesen Moment als den Aufbruch in die Freiheit empfanden und heute weitaus besser dastehen als der einstige große Bruder, ging für die Russen ein Reich unter, das auf Ewigkeit angelegt war. Der Abstieg zur gewöhnlichen Nation in einer multipolaren Welt fällt schwer.

Aktuelle Sozialdaten lesen sich wie Symptome für das fortwährende Trauma. Die Lebenserwartung von Männern liegt bei 64 Jahren. Die Suizidrate gilt als höchste weltweit. Schätzungsweise zwischen zehn und zwanzig Millionen Menschen sind seit dem Ende des Kommunismus einen vorzeitigen Tod gestorben - so viele Russen sind auch im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen. Die Geburtenrate ist halb so hoch wie zur Zeit von Stalins Tod, die Sterberate doppelt so hoch. Seit Jahrzehnten schrumpft die Bevölkerungszahl.

Zerrüttung in der Endlosschleife

Diese Zerrüttung lässt sich nicht auf einzelne Ereignisse oder Personen der jüngeren Geschichte zurückführen, hießen sie nun Stalin oder Putin. Das sowjetische Moderneprojekt ist in Russland nicht wie in fast allen einstigen Trabantenstaaten in Mittel- und Osteuropa mit einem Coup zu Ende gegangen. Es ist vielmehr seit 60 Jahren in einem unaufhörlichen Scheitern begriffen - als würde ein Film immer wieder neu beginnen. Vermutlich schwindet in dieser Endlosschleife eines Tages sogar der Stern Josef Stalins. Mit dem Aussterben der Veteranengeneration und dem Heranwachsen einer Jugend, die in sozialen Netzwerken eher zu Hause ist als in der Zombiewelt ihrer Väter und Großväter, löst sich die russische Geschichtserzählung vielleicht doch aus ihrer Erstarrung.

Seelische Störungen führen zu Realitätsverlust oder zur Ausprägung von Scheinrealitäten. Angesichts der andauernd turbulenten Verhältnisse im Land fragen sich viele Russen heute, in welche Wirklichkeit sie hineingehören. Josef Stalin, der Diktator, wird ihnen den Weg nicht mehr weisen - hoffentlich.

Der Autor, Kulturmanager und Theaterintendant Michael Schindhelm, 52, studierte in Moskau und leitet seit 2010 beim Strelka Institute in Moskau den Forschungsbereich öffentlicher Raum.

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