60 Jahre vereintes Europa:Europa-Freunde formieren sich

60 Jahre vereintes Europa: Kanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Rom

Kanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel in Rom

(Foto: AP)

Ausgerechnet zum Jubiläums-Gipfel in Rom herrscht Krisenstimmung in der EU. Dabei gibt es genug Gründe zum Feiern. Und Pro-Europäer beginnen, sich gegen Angriffe der Nationalisten zu wehren.

Von Stefan Ulrich

"Ich glaube, weil es widersinnig ist." Von dem Satz der Theologen schienen sich in den 1950er-Jahren einige Männer leiten zu lassen, die ein vereintes Europa wollten. Die Voraussetzungen waren schlecht.

Der Zweite Weltkrieg lag nicht lange zurück, das Misstrauen, vor allem gegen Deutschland, war groß. Staaten wie Frankreich wollten Souveränität nicht abgeben. So scheiterte 1954 die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Das Projekt Europa, gerade mit der Montanunion begonnen, schien schon wieder tot zu sein.

Der Franzose Jean Monnet, der Belgier Paul-Henri Spaak, der deutsche Konrad Adenauer und einige, die man magische Realisten nennen könnte, weil sie pragmatisch eine Vision verfolgten, ließen sich nicht entmutigen. Sie suchten nach einer anderen Möglichkeit, die Europäer zusammenzubringen, um Kriege unmöglich zu machen und den Bürgern eine Zukunft in Freiheit und Wohlstand zu bieten. Weil der politische Weg verstellt war, schlugen sie einen Umweg über die Wirtschaft ein.

In kleinen, leichter vermittelbaren Schritten wollten sie die Volkswirtschaften verflechten, in der Hoffnung, dies werde eine politische Union nach sich ziehen. "Methode Monnet" wurde diese, durchaus listige Strategie genannt. Monnet selbst soll gesagt haben, er wolle eine Revolution, "die wir mit legalen Mitteln und mit Staatsmännern erreichen müssen, denen es an Energie und emotionalem Engagement fehlt".

Der Brite Winston Churchill sagte später: "Niemals in der Geschichte der Menschheit ging eine so wichtige Entwicklung, vorangetrieben von einer Handvoll Leute, so unbemerkt vonstatten."

Am 25. März 1957 feiert die Methode Monnet einen überraschenden Erfolg: Auf dem Kapitol in Rom kommen Regierungsvertreter Frankreichs, Italiens, Deutschlands, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs zusammen. Während das Volk draußen im Regen steht, unterzeichnen die Politiker im Konservatorenpalast die Abkommen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischen Atomgemeinschaft. Die Gründung ist ein Elitenprojekt - was zur Erfolgsgarantie und zur Bürde Europas wird.

In kleinen Schritten kommt Europa voran

Das vereinte Europa startet als Kleinunternehmen mit sechs, kaum vom Weltkrieg genesenen Staaten mit 200 Millionen Bürgern. Es gibt nichts Gemeinsames: keine Zollunion und keinen Binnenmarkt, kein Reisen ohne Grenzen und keinen Euro. Dafür gibt es aber viel Skepsis.

So will Charles de Gaulle, seit 1959 französischer Präsident, lieber ein Europa der Vaterländer, die ihre volle Souveränität behalten, anstatt sie teilweise an Europa abzugeben. So heftig sind die Konflikte, dass Frankreich vorübergehend die Sitzungen des EWG-Ministerrats boykottiert - die Politik des leeren Stuhls.

Dennoch kommt Europa voran. In kleinen Schritten, so, wie es Monnet geplant hat. Bald ist die EWG der weltweit größte Exporteur und zweitgrößte Importeur. 1968 ist die Zollunion erreicht. 1973 treten Großbritannien, Irland und Dänemark bei, 1981 Griechenland, 1986 Spanien und Portugal.

Den EU-Verächtern stellen sich Europa-Freunde entgegen

Doch gerät die Gemeinschaft Anfang der Achtzigerjahre in eine Krise. Die Staaten streiten über den Agrarhaushalt und die Beitragssätze, eine Reform der Institutionen in Brüssel kommt nicht voran. Von Euro-Sklerose ist nun die Rede.

Dem Franzosen Jacques Delors gelingt es, Europa wieder flottzumachen, um den Binnenmarkt zu vollenden. 1993 sind die vier Grundfreiheiten - für Bürger, Waren, Dienstleistungen und Kapital - verwirklicht. Im Vertrag von Maastricht betonen die Staats- und Regierungschefs das Ziel einer politischen Einigung.

1995 wächst das Europaprojekt, nunmehr EU genannt, um Österreich, Schweden und Finnland. Im Rahmen der Ost-Erweiterung treten 2004 und 2007 nicht weniger als zwölf Länder bei, 2013 folgt Kroatien. Bereits seit 2002 zahlen viele Europäer mit dem Euro. Doch eines misslingt: die EU so zu stärken, dass sie den Fliehkräften der immer größeren Gemeinschaft standhält.

Wenn die Staats- und Regierungschefs an diesem Wochenende in Rom zusammenkommen, repräsentieren sie ein ganz anderes Europa als die Gründerväter. Statt sechs sind es nun 28 Mitgliedstaaten (nach dem Brexit 27), statt 200 Millionen sind es eine halbe Milliarde Bürger.

Die EU ist der größte gemeinsame Wirtschaftsraum der Welt und Vorbild für viele Regionen. Auch bei der Innen- und Justizpolitik, bei der Außenpolitik und der Verteidigung gibt es immer mehr Gemeinsamkeiten. Die Bürger können in der EU frei reisen, studieren, sich niederlassen, investieren oder Handel treiben. Aus Kriegsgegnern wurden Freunde, der Frieden erscheint gesichert.

EU-Bürger werden zu magischen Realisten - ein paar jedenfalls

Dennoch wird auf dem Kapitol in Rom mehr Krisen- als Feierstimmung herrschen. Europa ist kein Selbstläufer mehr. Die Methode Monnet funktioniert nicht mehr. Viele hinterfragen - und manche bekämpfen -, was in Brüssel passiert. Die Schrecken des Krieges sind verblasst. Der Wohlstand wächst nicht mehr wie früher. Die Globalisierung macht Angst. Die Nationalstaaten wollen keine Souveränität mehr abgeben. Die Gegensätze sind bei 28 Staaten viel größer als bei sechs.

Und nun? Mit den Visionen von ein paar Männern ist es offenkundig nicht mehr getan. Lange lähmten diese Erkenntnis und der Widerstand der Verächter eines einigen Europas alles. Doch nun scheint sich etwas zu bewegen. Auf einmal werden, wenn man so will, EU-Bürger zu magischen Realisten - ein paar jedenfalls.

Die Zustimmungswerte zur EU steigen wieder, Pro-Europäer wehren sich gegen die Angriffe der Nationalisten. Europafreunde formieren sich in Bewegungen wie Pulse of Europe. Sie folgen der Mahnung des Italieners Alcide De Gasperi, eines Vorkämpfers der EU: "Zur Einigung Europas muss man womöglich mehr vernichten als aufbauen, nämlich eine Welt von Vorurteilen, eine Welt des Kleinmuts und des Grolls."

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