Süddeutsche Zeitung

60 Jahre Gastarbeiter:Deutschland - multikulturell, multireligiös, multiverstört

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Aus Gastarbeitern wurde in den vergangenen Jahrzehnten ein deutsches Wunder. In der Flüchtlingskrise muss sich jetzt zeigen, was das Land gelernt hat.

Kommentar von Heribert Prantl

Kein Mensch hat sich das vor sechzig Jahren gedacht: Deutschland ist Heimat geworden für so viele Italiener, Griechen, Spanier, Türken und Portugiesen. Vor sechzig Jahren wurde das erste Gastarbeiter-Anwerbeabkommen geschlossen, damals mit Italien; Abkommen mit acht anderen Staaten folgten; das wichtigste war das mit der Türkei.

Diese Abkommen haben die Geschichte von Millionen Familien in Europa verändert; sie haben Geschichten und Geschichte geschrieben - Lebensgeschichte, Staatengeschichte. Sie haben die Geschichte und das Gesicht (und die Küche!) Deutschlands verändert, wohl auch die Geschichte und das Gesicht der Herkunftsländer.

Diese Geschichte also begann vor sechzig Jahren; und Deutschland hat sich in dieser Zeit sehr gewandelt, mindestens so sehr wie das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, als dort polnische Einwanderer kamen und blieben. Deutschland ist, ob man das Wort nun mag oder nicht, multikulturell geworden, multireligiös - und multiverstört.

"Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen"

Immer wieder knöpft sich die Verstörung das Wort "Multikulti" vor; auf dem CDU-Parteitag soll das wieder einmal geschehen - gerade so, als könne man mit der Verbannung des Wortes Probleme verschwinden lassen, die es immer noch und immer wieder gibt bei der Integration, die trotz alledem viel weiter ist, als es Schwarzmaler behaupten. Deutschland ist Integrationsland geworden - für die Neubürger und die Altbürger. Das war und ist nach dem Wirtschaftswunder und dem Wiedervereinigungswunder das dritte Wunder der Nachkriegsgeschichte.

"Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen": Die berühmten sieben Wörter von Max Frisch erinnern an die groben Versäumnisse der Politik, die erst 2005 ein Integrationsgesetz zustande brachte. Die "Gastarbeiter" sollten, so sah man das zunächst hier wie dort, in Deutschland ein paar Jahre arbeiten, sparen und wieder heimgehen. Aber es kam so oft alles anders: Die Gastarbeiter arbeiteten, sparten, gestalteten das deutsche Wirtschaftswunder mit; sie kauften sich ein Auto, arbeiteten weiter, holten ihre Familien nach oder gründeten welche, machten ein Geschäft auf, sparten noch mehr, bauten sich ein Häuschen: in Deutschland.

Deutsche mit fremden Namen bringen andere Denkweisen

Als die deutsche Politik gemerkt hatte, dass aus den Gastarbeitern Einwanderer geworden waren, wollte man aus ihnen wieder Rückkehrer machen; die Regierungen Schmidt und Kohl legten einschlägige Programme auf, produzierten Rückkehr-Förderungsgesetze, zahlten Handgeld fürs Gehen und hielten das für ein Patentrezept. Es dauerte viel zu lange, bis man die Integration buchstabieren lernte - aber man lernte es. Glanz und Elend: Auf dem Boden einer lange ausländerabwehrenden Politik wuchsen die ausländerfeindlichen Verbrechen; die furchtbarsten werden seit zweieinhalb Jahren im Münchner NSU-Prozess verhandelt.

Die Deutschen mit den fremden Namen brachten und bringen andere Denkweisen mit als diejenigen, die als Horst Seehofer oder Angela Merkel registriert sind. Diese anderen Erfahrungen darf und soll man nicht sterilisieren und homogenisieren; solche Verfahren nutzen der Milch, aber nicht der deutschen Gesellschaft; diese Gesellschaft lebt gut von der Vielfalt, die ein gemeinsames Fundament hat: die Grundrechte des Grundgesetzes.

Das neue Deutschland: Es ist Integrationsland geworden, lang bevor 2015 die vielen Flüchtlinge kamen. Aber jetzt muss sich zeigen, was dieses Land schon gelernt hat. Diese Gesellschaft fängt nicht bei null an. Sie hat viele Erfahrungen gemacht, sie hat viele Kämpfe geführt. Da muss man nicht mehr von vorne anfangen.

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Quelle:
SZ vom 05.12.2015
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