60 Jahre BRD:Dissonanter Bildungskanon

Von der Konfessionslehranstalt zur Pisa-Studie: Das Schulwesen verändert sich ständig, ganz zufrieden sind die Betroffenen nie.

Tanjev Schultz

Es kam später nicht mehr oft vor, dass die FDP sich mit den Kommunisten verbündete. Aber nach dem Krieg kämpften sie in Bayern Seite an Seite mit der KPD gegen die Rekonfessionalisierung der Schulen. Im Verfassungsausschuss legten sie gemeinsam einen Entwurf vor: "Die Volksschulen sind öffentlich. Sie sind Gemeinschaftsschulen." Gemeinschaftsschulen: So nannte man damals Schulen, in denen Kinder beider Konfessionen unterrichtet werden.

Pisa-Studie, ddp

Bildungssystem Deutschland: von der Konfessionslehranstalt zur Pisa-Studie.

(Foto: Foto: ddp)

In den Anfangsjahren der Bundesrepublik gab es noch starke konfessionelle Parallelgesellschaften. Nach der Kapitulation 1945 kehrte man zur Bekenntnisschule zurück - nicht nur als ein Angebot, sondern als staatliches Prinzip.

In Bayern verankerten CSU und SPD die Bekenntnisschule als Regelschule in der Verfassung. Erst viel später wurde das korrigiert, ein Volksentscheid stimmte 1968 dem Grundsatz zu, den Liberale und Kommunisten seit langem vertraten: Öffentliche Schulen sind für alle da.

Zwar ziehen sich in der Bildungspolitik einige Topoi durch die gesamte Geschichte: der Streit über die Schulstruktur, die Debatte über Stofffülle und Bildungskanon oder den "Mut zur Erziehung". Aber Stillstand war nie, Werte verschoben sich, Institutionen entkrampften. Auch heute noch empfinden manche Schüler den Unterricht als eine Zwangsveranstaltung. Aber dass den älteren Bundesbürgern die Prügelstrafe noch in guter schlechter und schmerzhafter Erinnerung ist, löst bei Jugendlichen immer wieder Staunen aus.

Verunsichert von den Pisa-Studien, schicken immer mehr Eltern ihr Kind auf eine Privatschule; auch die kirchlichen Schulen sind wieder beliebt. Die Verbissenheit jedoch, mit der in den fünfziger Jahren sogar staatliche Schulen Katholiken von Protestanten trennten, wirkt nur noch kurios.

Die Gemeinde Staudach-Egerndach im Chiemgau, Januar 1950: Eine Lehrerin wird versetzt. Sie kam als Flüchtling nach Bayern - und ist evangelisch. Das passt dem Schulamt nicht, die Kinder hier sind schließlich katholisch. Die Eltern indes, zufrieden mit der Lehrerin, wehren sich. Schulstreik! Zwei Wochen lang. Aber die Behörden lassen sich nicht erweichen. Die Süddeutsche Zeitung zitiert damals das US-Landeskommissariat: "Die bayerische Demokratie geht manchmal seltsame Wege..."

Und Bayern geht, wie die anderen Bundesländer, in der Bildung auch ganz eigene Wege. Das Grundgesetz übertrug den Ländern die Kulturhoheit, Konflikte mit dem Bund und das Ringen um länderübergreifende Absprachen in der Schulpolitik ziehen sich deshalb durch alle Jahrzehnte.

Bis heute ist es den Ländern nicht gelungen, die Versorgung mit Lehrern auf eine gemeinsame, verlässliche Basis zu stellen. Phasen massenhafter Lehrerarbeitslosigkeit wechseln sich ab mit Zeiten des Mangels, in denen das Provisorium zur Regel wird.

Als 2006 die Lehrer der Berliner Rütli-Schule mit ihrem Hilferuf bundesweit Schlagzeilen machten, klagten sie nicht nur über schwierige Schüler. Sie fühlten sich im Stich gelassen; es fehlten Pädagogen, die Schulleitung war seit Monaten nicht richtig besetzt. Ähnliche Beschwerden haben Lehrer und Eltern in Deutschland schon oft und immer wieder formuliert.

Eine Schule in Nürnberg im Jahr 1952: Die Lehrer erinnern das Schulamt daran, dass der Posten des Rektors immer noch nicht besetzt ist. Zwei Klassen hätten bereits seit vier Wochen "praktisch keinen Unterricht" mehr gehabt.

Unterricht im Schichtbetrieb

Und doch haben sich die Probleme verändert, manchmal sind sie sogar kleiner geworden. Wenn es in der Schule durchs Dach regnet und die Toiletten so alt und schmutzig sind, dass die Kinder lieber an sich halten, bis sie daheim sind, ist das vielleicht nur ein schwacher Trost. Aber in den Anfangsjahren der Bundesrepublik waren viele Schulen komplett zerstört, der Unterricht musste oft im Schichtbetrieb stattfinden (bis zu 100 Kinder in einer Klasse). Es kam vor, dass die Wasserleitungen wochenlang defekt waren und die Kinder ihre Notdurft im Freien verrichteten.

Der Bildungsnotstand und die Bildungskatastrophe, die dann in den sechziger Jahren, weit vor den Pisa-Studien, beklagt wurden, bezogen sich aber schon nicht mehr nur auf die dürftigen Umstände, unter denen die Kinder und Jugendlichen nach dem Krieg unterrichtet wurden. Vielmehr zeigte sich nun, dass die elitären Gymnasien und Universitäten den stetig wachsenden Bedarf an Fachkräften nicht decken konnten. Es folgte die Zeit der Bildungsexpansion. Der Zustrom zu Gymnasien und Hochschulen wurde größer und breiter.

Auch dem katholischen Mädchen vom Lande, einst Inbegriff geringer Bildungserwartungen, öffneten sich die Universitäten. Die Expansion hat allerdings noch immer nicht alle Gruppen erfasst. Der muslimische Migrantenjunge, der in einer Großstadt lebt, ist nun das neue Sorgenkind der Bildungspolitik. Für ihn ist die Wahrscheinlichkeit hoch, die Schule abzubrechen oder allenfalls einen Hauptschulabschluss zu schaffen.

Um dem Sorgenkind zu helfen, empfehlen viele politisch Linke den Aufbau von Gemeinschaftsschulen. Sie meinen damit so etwas Ähnliches wie Gesamtschulen, die ihre Schüler bis zum Abitur führen können. Die alte Bedeutung aus dem Kampf um die Konfessionsschule ist bereits Geschichte.

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