60 Jahre BRD:Der zivile Reserveoffizier

Wie die Gesellschaft in Deutschland entmilitarisiert wurde und warum sie den Soldatenberuf geringschätzt.

Kurt Kister

Seit der Zeitenwende von 1989/90 hat sich viel verändert in Deutschland. Manches davon ist auffällig, anderes wird wenig wahrgenommen. Ein Beispiel für eine eher unauffällige, aber große Veränderung ist das allmähliche Verschwinden der Armee aus der Öffentlichkeit.

60 Jahre BRD: Zu Zeiten des Kalten Krieges standen in der Bundesrepublik fast eine halbe Million Mann unter Waffen - heute unterhält die BRD eine Armee von gerade einmal 250.000 Soldaten. (Bild: Großer Zapfenstreich)

Zu Zeiten des Kalten Krieges standen in der Bundesrepublik fast eine halbe Million Mann unter Waffen - heute unterhält die BRD eine Armee von gerade einmal 250.000 Soldaten. (Bild: Großer Zapfenstreich)

(Foto: Foto: ddp)

Zu Zeiten des Kalten Krieges standen in der Bundesrepublik fast eine halbe Million Mann unter Waffen. Dazu kamen Zehntausende Soldaten aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Kanada. Das Land war voller Kasernen, Fliegerhorste und Depots; alljährlich im Herbst gab es große Manöver.

Drüben in der DDR sah es nicht wesentlich anders aus. Die Präsenz von Volksarmee und sowjetischen Truppen schien in dem relativ kleinen Land noch massiver zu sein als die der Nato im Westen.

Heute ist dies alles anders. Tausende militärische Standorte wurden geschlossen, die Bundesrepublik mit mehr als 80 Millionen Einwohnern unterhält eine Armee von gerade mal 250.000 Soldaten. Außer ein paar Tausend Amerikanern und Briten sind keine ausländischen Truppen mehr auf deutschem Boden stationiert. Trotz der Einsätze in Afghanistan und im Kosovo ist Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts so wenig militarisiert wie nie zuvor in seiner Geschichte.

Die Entmilitarisierung Deutschlands begann allerdings schon viel früher in den Köpfen. Um diesen Prozess zu erklären, ist ein Blick in die Vergangenheit nötig. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren der Soldatenberuf und jene soldatische Ideologie, auf der er fußte, wichtige Teile des Selbstverständnisses der Mehrheit des Bürger- und Kleinbürgertums. Dies hatte auch mit dem Wandel des Offizierkorps zu tun.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten sich überall in Europa die auf der Wehrpflicht gründenden Massenheere. Das Offizierkorps konnte sich nicht mehr, wie zuvor üblich, vor allem aus dem Adel rekrutieren. Zwar blieben bestimmte Waffengattungen, etwa Kavallerie und Garde, den Grafen und Baronen noch bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs weitgehend vorbehalten. Ein immer größerer Teil der Offiziersstellen aber, zumal bei technischen Truppen wie Artillerie oder Pionieren, wurde von Bürgerlichen besetzt.

Weil die Wehrpflichtheere in der Krise durch die Einberufung zahlreicher Reservisten "aufwachsen" mussten, gewann auch der Stand des Reserveoffiziers an Bedeutung.

Gerade die Reserveoffiziere, im Zivilberuf oft Juristen, Beamte und Lehrer, trugen den militärischen Geist in die Gesellschaft. Das Prinzip von Befehl und Gehorsam; die nahezu bedingungslose Unterordnung unter scheinbar gegebene Hierarchien; die Bereitschaft, sich, aber vor allem auch andere für eine "höhere Sache" zu opfern - dies alles gehörte zu der auch soldatisch formierten Gesellschaft des Wilhelminismus.

Dieser Geist ging nicht einmal in den verheerenden Materialschlachten des Ersten Weltkriegs unter, im Gegenteil. Der Nationalsozialismus verstand sich als eine Bewegung der Frontkämpfer, als soldatisch geprägte Massenorganisation. Allerdings stand in der braunen Mythologie nicht so sehr der Offizier im Vordergrund als vielmehr der namenlose Grabenkämpfer, der Feldwebel oder eben der Gefreite und Melder vom Schlage Adolf Hitlers.

Erst die deutsche Großkatastrophe scheint die Ideologisierung des Soldatischen in unserem Land beendet zu haben. Zwar wurde die NVA parteioffiziell als einer der Pfeiler des Arbeiter-und- Bauernstaats betrachtet. Tatsächlich aber genossen weder Offiziere noch Unteroffiziere in der Bevölkerung Wertschätzung. Wie die anderen Pfeiler des SED-Staates auch zerfiel die NVA nahezu geräuschlos in der Wendezeit; ihre Reste wurden großzügig und paternalistisch in die Bundeswehr integriert.

Im Westen wiederum war die relative Missachtung des Soldatenberufs immer wieder Gegenstand erbitterter Debatten. Etliche Traditionalisten unter den meist noch kriegsgedienten Offizieren der ersten beiden Bundeswehr-Dekaden beriefen sich darauf, einen "Beruf sui generis" auszuüben, einen besonderen Dienst mit besonderen Rechten und Pflichten, der die Anerkennung der Gesellschaft besonders verdiene.

Die Gesellschaft sah und sieht dies in ihrer Mehrheit ganz anders: Offiziere zählen zu jenen Berufsgruppen mit niedrigem Sozialprestige. Die Allensbacher Berufsprestige-Umfragen ergeben, dass gerade mal Gewerkschaftsführer und Politiker noch weniger geschätzt werden als Offiziere, wohingegen Professoren, Pfarrer oder gar Ärzte um ein Vielfaches mehr respektiert werden.

Selbst den meisten ihrer Angehörigen gilt die Bundeswehr heute zumeist als eine etwas andere Möglichkeit, Arbeit und Ausbildung zu erhalten. Für viele Offiziersanwärter zählt weniger der besondere Beruf als vielmehr die Garantie, ein bezahltes Studium absolvieren zu können, das später auch zivilberuflich nutzbar ist. Ähnliches gilt, wenn auch ohne Studium, für Unteroffiziere. Nicht von ungefähr stammt ein relativ hoher Anteil der Berufs- und Zeitsoldaten aus Ostdeutschland, wo der Arbeitsmarkt schwieriger ist als im Westen.

Ob jemand den Wehrdienst abgeleistet hat, gar Reserveoffizier ist, spielt heute weder für das Ansehen noch für die zivile Karriere eine nennenswerte Rolle. Dem Soldaten wird, wie dies Bundespräsident und Wehrbeauftragter gerne beklagen, tatsächlich "freundliches Desinteresse" entgegengebracht.

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