60 Jahre BRD:Der alte Geist zog nicht mehr ein

Die Bundeswehr sollte die erste Armee der deutschen Demokratie werden - und hat das leichter geschafft, als es die Zweifler vermuteten

Joachim Käppner

Die Soldaten trugen schusssichere Westen und G-36-Schnellfeuergewehre. Sie hatten gepanzerte, minensichere Dingo-Fahrzeuge mit Maschinengewehren und ihren Stützpunkt mit Natodraht gesichert. Sie gehörten zum stärksten Militärbündnis, das es je gegeben hat. Sie waren auf alles vorbereitet. Nur auf diesen Gegner nicht.

60 Jahre BRD: Andernach 1956: Bundesverteidigungsminister Theodor Blank überreicht in Andernach den ersten 450 Soldaten der Bundeswehr die Verpflichtungsscheine.

Andernach 1956: Bundesverteidigungsminister Theodor Blank überreicht in Andernach den ersten 450 Soldaten der Bundeswehr die Verpflichtungsscheine.

(Foto: Foto: dpa)

Im wilden Tal der Bistrica, vor dem serbisch-orthodoxen Kloster des Heiligen Erzengels, tauchte plötzlich eine riesige albanische Menschenmenge auf, Frauen, Kinder. Und Männer mit Molotow-Cocktails. Die Masse brandete an wie eine Flutwelle, die 20 Soldaten stemmten sich ihr entgegen. Sie feuerten Warnschüsse ab, drohend fuhr der Dingo mit dem MG auf.

Aber die Albaner kümmerten sich gar nicht um die Deutschen. Sie liefen an ihnen vorbei, zündeten das Kloster an, und hätte ein reaktionsschneller Unteroffizier die Mönche nicht rasch in einen Dingo verladen und wäre durch ein trockenes Flussbett davongepoltert, die Geistlichen hätten die Nacht nicht überlebt.

Johlend zog die Menge ab, das Kloster loderte in der Dunkelheit wie eine Flamme des Hasses zwischen den Völkern, den zu beruhigen die Deutschen doch hergekommen waren.

Das war im März 2004, an mehreren Orten des deutschen Sektors im Kosovo. Die Deutschen aber hatten sich paradoxerweise in dieser für die Nato-Friedenstruppe peinlichen Schlappe als das erwiesen, was sie seit 1955 sein sollten und sein wollten: Staatsbürger in Uniform, die selbst dann kein Blutbad unter Zivilisten anrichten, wenn die Einsatzrichtlinien, wie in diesem Fall, gezielte Schüsse erlaubt hätte. Eine Niederlage, gewiss, aber auch ein Sieg des gesunden Menschenverstandes und der Humanität.

Größer könnte der Wandel nicht sein. Wenn deutsche Soldaten, wie Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) einst sagte, "Deutschland am Hindukusch verteidigen", treten sie dort, ebenso wie in Bosnien und im Kosovo, für jene universellen Werte von Freiheit und Menschenwürde ein, welche die Armee ihrer Großväter auch in diesen Regionen unter den Schaftstiefel getreten hatten.

Das deutsche Militär hatte sich während der Weimarer Jahre, bevor sich die Generalität wie willenlos Hitler auslieferte, als "Staat im Staate" verstanden, über den Parteien stehend und einer eigenen, anmaßenden Moral verpflichtet. Das Grundgesetz verlangte im Lichte dieser Erfahrung eine Armee neuen Typs, die schon 1950 in der Himmeroder Denkschrift formuliert wurde: eine Armee, die nicht nur loyal zur Demokratie steht, sondern sich als deren Teil versteht.

Die Innere Führung und der Staatsbürger in Uniform: dieses Konzept, von Traditionalisten heftig angefeindet, suchte und fand den Ausgleich "zwischen demokratischer Idee und soldatischer Notwendigkeit", wie es sein Mitbegründer, General Johann Adolf Graf von Kielmansegg, formulierte. Dies ist eine der großen Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik.

Deutsche Soldaten wurden wieder gebraucht

Als freilich im Januar 1956 die ersten Freiwilligen in eine improvisierte Baracken-Kaserne in Andernach einrückten, bestand die Führung der Bundeswehr fast ausschließlich aus Wehrmachtsveteranen, anderes Personal gab es nicht. Dankbar trompetete die SED-Propaganda aus der DDR gegen "das "Bonner Regime der Militaristen und Hitlergeneräle"; freilich verhielt es sich bei der Nationalen Volksarmee, jedenfalls in den niederen Rängen, kaum besser.

Deutsche Soldaten wurden wieder gebraucht. Der Kalte Krieg hatte 1955 auf beiden Seiten der Zonengrenze zu einer raschen deutschen Remilitarisierung geführt, wie sie in der Trümmerlandschaft von 1945 unvorstellbar gewesen war. Umsonst protestierte die Paulskirchenbewegung, ein breites Bündnis einschließlich der SPD, gegen die Wiederbewaffnung. Recht skeptisch blickten freilich auch die Soldaten auf dem Bild bei ihrer ersten Weihnachtsfeier in Andernach in die Zukunft. Einige waren vor nicht allzu langer Zeit noch für den NS-Staat in den Krieg marschiert, immerhin gab es nun neue Uniformen, die ziviler wirken sollten.

Aber der alte Geist zog nicht ein in die neue Armee. Die "Personalgutachterausschüsse" siebten trotz gelegentlich arg großherzig angelegter Kriterien die härtesten Kaliber und uneinsichtigsten Exkameraden aus. Und manche, die zwar nicht braun gesonnen waren, das neue Soldatenbild und den Primat der Politik über das Militär aber ablehnten, fanden den Weg zur Truppe nicht.

Der bekannteste Fall war Walther Wenck, im Mai 1945 Kommandeur der 12. Armee, die Hitlers letzten Befehl zum Durchbruch nach Berlin verweigerte und stattdessen Zehntausenden Flüchtlingen, Soldaten und Verwundeten die Flucht über die Elbe zu den Amerikanern ermöglichte. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hätte Wenck 1956 gern zum Generalinspekteur gemacht, aber der verlangte politische Mitspracherechte, welche die junge Demokratie aus guten Gründen nicht zu geben bereit war.

So hatten die Veteranen die Wahl, sich zu fügen oder sogar für die neuen Verhältnisse zu erwärmen - oder sich auf Rückzugsgefechte einzulassen, die sie nicht gewinnen konnten. So mancher Abgang in Schimpf und Schande zeugte davon.

Generalleutnant Walter Krupinski, mit 197 Luftsiegen einer der erfolgreichsten Jagdflieger des Kriegs und 1976 Kommandierender General der 2. Alliierten Taktischen Luftflotte, stürzte nach außen hin über seine erbärmliche Rolle in der Rudel-Affäre, im Grunde aber über seinen Versuch, aus dem Primat der Politik hinauszutreten. Die Generäle Krupinski und Karl-Heinz Franke hatten den Stukaflieger und Altnazi Hans-Ulrich Rudel zu einem Traditionstreffen eingeladen und damit die sozialliberale Koalition offen herausgefordert. Sie mussten gehen.

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Der alte Geist zog nicht mehr ein - Teil II

Der von der Union angefeindete, aber auch in den Kohl-Jahren nicht wirklich revidierte Traditionserlass von 1982 löste die Bundeswehr dann endgültig auch vom geistigen Erbe der Wehrmacht: "In den Nationalsozialismus waren die Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie schuldlos missbraucht. Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen."

Dieselben Männer dienten unter dem Hakenkreuz und der Bundesfahne, doch waren sie es oder zumindest ihre entscheidende Mehrheit, welche die neue Armee aufbauten.

Männer wie Günter Rall (einst Jagdflieger mit 276 Luftsiegen und bis 1974 Generalinspekteur der Luftwaffe), Hans Speidel (1944 Stabschef unter Erwin Rommel an der Westfront und 1957 bis 1963 Oberbefehlshaber der Nato-Landstreitkräfte in Mitteleuropa) oder Peter von Butler (der als Offizier beim Oberkommando des Heeres die Wahnwelt des Hitlerschen Bunkers in Berlin erlebte und zu den Befehlsverweigerern um Wenck gehörte; 1970 bis 1974 Vertreter der Bundesrepublik im Nato-Militärausschuss) haben die Chance ergriffen, deutsches Militär und deutsche Demokratie miteinander zu versöhnen, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Und ihr Vorbild prägte die erste Soldatengeneration der Bundeswehr.

Was die Deutschen aber von ihrer Armee hielten, das schwankte mit den Zeiten und Aufgaben. Als der junge Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, Sohn des Hitler-Attentäters, 1956 in Bremen Rekrut war, riefen die Arbeiter von der Werft gegenüber Schmähungen hinüber. Das Hafenviertel galt als "rot", und Soldaten waren in den Kneipen nicht gern gesehen, ein paar Bier, und es flogen die Fäuste.

Schwere Panzer auf dem Würzburger Residenzplatz

In der Kaserne wurde der junge Stauffenberg scheu betrachtet, und mancher war noch dabei, der heimlich dachte: Das ist der Sohn des Verräters. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits eine epochale Entscheidung gefallen: Im Braunschweiger Urteil gegen den Rechtsradikalen Otto Ernst Remer, der die Verschwörer des 20. Juli 1944 als "Landesverräter" geschmäht hatte, wurde der Soldat, der dem Gewissen statt dem mörderischen Befehl folgt, zum Vorbild: "Durchweg aus heißer Vaterlandsliebe und selbstlosem, bis zur bedenkenlosen Selbstaufopferung gehendem Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihrem Volk (haben sie) die Beseitigung Hitlers und damit des von ihm geführten Regimes erstrebt."

1965 standen schwere Panzer auf dem Würzburger Residenzplatz - zu Ehren eines militärischen Spektakels. Das Musikkorps spielte vor Tausenden Schaulustigen den Coburger Marsch und den Großen Zapfenstreich. Die Menge jubelte, als feierlich die Fahne der Nato aufgezogen wurde: Der Aufbau der Bundeswehr war nun abgeschlossen, die 12. Panzerdivision wurde dem westlichen Bündnis unterstellt. Und CDU-Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel erhielt Beifall, als er in seiner Ansprache Ludwig Uhland zitierte: "Ja, für die Freiheit bin ich, welche Einheit schafft." Die Bundeswehr stand auf der Höhe ihres Ansehens.

Nur 15 Jahre später. In Bremen feierte die Bundeswehr 1980 ihren 25. Geburtstag - aber nicht auf öffentlichen Plätzen, sondern im Weserstadion, abgeriegelt wie eine mittelalterliche Festung. Davor tobte eine Schlacht. Autos brannten, Steine flogen, Polizisten knüppelten, es gab Hunderte von Verletzten. Die Bundeswehr mied den öffentlichen Raum eher als dass sie ihn suchte, und wo sie es doch tat, dann deshalb, um im Wortsinn Flagge zu zeigen.

Die Friedensbewegung als ein Häuflein üblicher Verdächtiger

Eine halbe Generation von jungen Menschen aber hatte sich abgewendet, die Friedensbewegung mobilisierte Hunderttausende, die Frieden schaffen wollen ohne Waffen, also auch ohne die hochgerüstete Bundeswehr.

Diese Konfrontation verschwand nach dem Zerfall des Warschauer Paktes rasch. Die Friedensbewegung ist auf das Häuflein der üblichen Verdächtigen geschrumpft, die zudem große Mühe mit der Erklärung haben, warum es militaristisch ist, Mädchenschulen in Kundus davor zu bewahren, dass ein manischer Islamist Handgranaten in die Klassen wirft.

Alles ist nun anders: Vorher war die Bundeswehr zur Abschreckung da, heute ist sie eine Armee im Einsatz, auch wenn dieser im Bewusstsein der meisten Deutschen in einer Art bewaffneter Entwicklungshilfe besteht.

Dies aber muss nicht so bleiben - und sollte die Bundeswehr, wie es sich etwa US-Präsident Barack Obama für das Kampfgebiet im Süden Afghanistans wünscht, tatsächlich einmal ernsthaft zu einer friedensschaffenden Mission ausrücken, also Krieg führen müssen, ist mehr als fraglich, ob die Gesellschaft dazu bereit ist.

Diese Bewährungsprobe steht noch aus; die Hoffnung, dass sie der Bundeswehr erspart bleibt, mag trügerisch sein.

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