60 Jahre BRD:Das deutsche Wunder

Glückliche Irrungen, lehrreiche Wirrungen: Wie das Land aus Ruinen auferstand, sich der Zukunft zuwandte und zu einer Demokratie wurde.

Heribert Prantl

Am 8. Mai 1945 kehrt der junge Soldat Hans Schnitzler heim in den Trümmerhaufen, der von der Stadt Köln übrig geblieben ist. Die meisten Straßen sind nicht zu begehen. Schutt und Dreck türmen sich bis zu den ersten Stockwerken der leergebrannten Häuser, aus einigen Straßenzügen steigt noch Qualm in großen dichten schweren Schwaden. Aus manchen Geröllhalden sind schon grüne Hügel geworden, auf denen Bäumchen wachsen.

60 Jahre BRD: "Einigkeit und Recht und Freiheit" - auch die deutsche Flagge lässt Raum für Interpretationen.

"Einigkeit und Recht und Freiheit" - auch die deutsche Flagge lässt Raum für Interpretationen.

(Foto: Foto: dpa)

Der Schriftsteller Heinrich Böll begleitet Hans Schnitzler auf seinem Weg in die Keller der zerbombten Häuser, in Elendsquartiere, Notspitäler und in zerstörte Kirchen; er folgt ihm bei seiner animalischen Jagd nach Brot, nach Kohlen, nach einem Mantel, einem trockenen Bett, nach Zigaretten und Liebe. Der Roman, den Böll daraus macht, ist sein erster und heißt "Der Engel schwieg". Wir lesen, wie Schnitzler die Stelle des Mietshauses wiederfindet, in dem er gewohnt hat: "Vielleicht war es die Zahl der Schritte, die von der Straßenkreuzung noch zu gehen waren, oder irgend etwas an der Anordnung der Baumstümpfe, die einmal eine hohe und schöne Allee gebildet hatten; irgendetwas veranlasste ihn, plötzlich haltzumachen, nach links zu sehen, und da war es: Er erkannte den Rest des Treppenhauses, stieg über die Trümmer langsam dorthin; er war zu Hause."

Wenig Optimismus für die Zukunft

Zu Hause? Viele Heimkehrer hatten das Gefühl, dass es keine Heimat auf dieser Welt mehr gibt. Zu Hause - das waren Gestank, Schwarzmarkt, Hunger, Diebstahl, Faustrecht und Betrug. Das war in Köln so und in Hamburg, in Berlin, Hannover, Dresden, München und Kassel. Im Inneren der Menschen setzte sich die äußere Verwüstung fort; die Zukunft war ein bombentrichtergroßes Loch.

Es gab Überlebende wie Hans Schnitzler, die, überwältigt vom Sterben ringsum, die Toten beneideten und es nur allmählich wagten, das Leben, ihr Leben, wieder anzunehmen. Und es gab die anderen, die mit dem abwaschbaren Gewissen, die politisch immer richtig liegen, Leute wie den Wehrmachtsoffizier Schnecker.

"Das Vermächtnis", eine andere Erzählung Bölls von 1949, zeigt Schnecker als feigen Widerling und Mörder an der Front und als frisch promovierten Juristen auf den Pfaden des beginnenden Wirtschaftswunders. Schnecker ist eine der vielen Figuren Bölls, die das Prinzip Globke veranschaulichen: Hans Globke wurde Staatssekretär in Konrad Adenauers Kanzleramt; unter Hitler hatte er die Nürnberger NS-Rassegesetze kommentiert. Er war die Personifikation derer, die aus dem Nazireich und seiner Verbrechensgeschichte ausstiegen wie aus einer Straßenbahn und sich sogleich ans Aufräumen und Geldverdienen machten. Alfred Döblin hatte diese Leute im Auge, als er 1947 bei seiner "Schicksalsreise" nach Berlin irritiert feststellte: "Es wird viel einfacher sein, ihre Städte wieder aufzubauen, als sie dazu zu bringen, zu erfahren, was sie erfahren haben und zu verstehen, wie es kam." Adenauer akzeptierte, dass das so ist; Böll fand das unerträglich.

Der Systemwechsel nach 1945 funktionierte im Westen so: Die Nazirichter rissen sich das Hakenkreuz von der Robe und machten einfach weiter. Die Professoren tilgten die braunen Sätze aus ihren Büchern und blieben auf ihren Lehrstühlen oder kehrten alsbald auf diese zurück. Vergeblich forderte der Philosoph Karl Jaspers eine konsequente Entnazifizierung unter den Professoren. Die Beamten hängten Hitler von der Wand, gelobten einem neuen Dienstherrn die Treue und verwalteten weiter. Der Tag der Befreiung war ein Tag der Befreiung von den Äußerlichkeiten des alten Regimes; viele streiften einfach die alte braune Haut ab.

Dem heißen Krieg folgte der kalte

Die Spruchkammern zur Entnazifizierung, eine gut gemeinte Erfindung der Amerikaner, taten nicht sonderlich weh und stellten ihre Tätigkeit bald wieder ein. Die Täter erklärten sich zu Verführten, die Mitläufer stilisierten sich zu Opfern. Die Gesetze halfen ihnen dabei; nie wieder seitdem hat Resozialisierung so einvernehmlich und so umfassend funktioniert. Die Parteien in der alten Bundesrepublik konkurrierten um die "nach Millionen" zählenden "Verführten", wie das Eugen Gerstenmaier, CDU-Abgeordneter und Bundestagspräsident, 1954 formulierte; er hatte zur Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises gehört.

Man sei nicht gewillt, so Gerstenmaier, beim "Neuaufbau des deutschen Vaterlandes" auf diese "Verführten" zu verzichten. Und als dieser Neuaufbau erreicht und das Wirtschaftswunder erschaffen war, attestierte der CSU-Chef Franz Josef Strauß dem Volk, "das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat", ein Recht, "von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen".

Dem heißen Krieg war der kalte Krieg gefolgt, an die Stelle von Vergangenheitsbewältigung trat im Westen der Antikommunismus; er war das einigende Band der Wirtschaftswundergesellschaft. Fast wahnhaft sah die Adenauer-Politik hinter jeder Kritik an ihr den Weltkommunismus am Werk. Also wurde ein späterer Bundespräsident von den bundesdeutschen Geheimdiensten überwacht und das Telefon seiner Anwaltskanzlei illegal abgehört. In dieser Zeit erlebte es Gustav Heinemann wiederholt, dass unter sein Türschild Zettel geklebt wurden: "Von Moskau bezahlt". Es war dies die Zeit, in der Bundeskanzler Adenauer die Gegner der Wiederbewaffnung öffentlich als Dummköpfe ersten Ranges und als Verräter titulierte. Auch Böll gehörte zu diesen Dummköpfen, später gehörte er, angeblich, zu den Sympathisanten der RAF. Die Politik ist immer schnell fertig mit ihren Kritikern.

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Das Unverständnis der Justiz

60 Jahre BRD: Konrad Adenauer bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949.

Konrad Adenauer bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949.

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Die westdeutsche Justiz war Teilnehmer am Kalten Krieg. Sie hat mit Unverständnis, bisweilen auch mit Gnadenlosigkeit echte und angebliche Kommunisten, radikale Christen und Pazifisten verfolgt. Als das Bundesverfassungsgericht 1956 die Kommunistische Partei eher widerstrebend verbot, begann eine rigorose rückwirkende Verfolgung aller KPD-Mandatsträger, die ja bis dahin in vielen Parlamenten gesessen hatten. Widerstandskämpfer gegen die Nazidiktatur, dem KZ knapp entronnen, sahen sich plötzlich in der jungen Demokratie wiederum vor dem Richter, oft war es ein alter Nazi-Richter.

Ehemalige Opfer wurden wieder Opfer, und Täter von einst wurden wiederum Täter. Diese Feststellung erinnert daran, dass für die vergangenen sechzig Jahre das Wort Vergangenheitsbewältigung nicht nur auf Wegweisern steht, die in den Osten zeigen.

Traurigkeit und Zorn

"Wir werden sehr oft traurig sein", sagt Hans Schnitzler in Bölls Roman zu der jungen Frau, die er in den Trümmern findet, und die seine Gefährtin wird. Durch Bölls ganzes Werk zieht sich diese Traurigkeit, die sich manchmal zum heiligen Zorn steigert - über Adenauer, seine restaurative Politik, die Wiederbewaffnung; über die Springer-Presse und ihr Geifern gegen die Studentenbewegung der 68er. Böll und viele andere Intellektuelle haben Gift und Galle gespuckt gegen Adenauer, der für sie Inbegriff einer miefigen, verlogenen und bigotten Nachkriegsgesellschaft war.

Sie erkannten nicht, wie Adenauers Politik das Land auch stabilisierte und mit der Demokratie versöhnte, die den Bundesrepublikanern bis weit in die fünfziger Jahre hinein suspekt war. Die große Rentenreform 1957 beispielsweise, mit der die dynamische Rente eingeführt wurde, war weit mehr als ein geniales Wahlgeschenk des Alten vom Rhein; sie war ein Umverteilungsprojekt, geformt aus sozialkatholischem Geist, bezahlt vom neuen Wohlstand; sie war unglaublich populär und demokratiestabilisierend.

Adenauer und Böll: Sie waren Gegenspieler, und doch repräsentieren beide die frühe Bundesrepublik in komplementärer Weise. Sie waren wie der rechte und der linke Schuh der jungen Demokratie. Böll ist 1917 in Köln geboren, dem Jahr, in dem Adenauer erstmals Kölner Oberbürgermeister wurde; Bölls erstes Buch wurde 1949 veröffentlicht, im Jahr, in dem der Bundestag Adenauer zum ersten Bundeskanzler wählte. 1975, acht Jahre nach Adenauers Tod, schrieb der bittere Böll einen wunderbar einlenkenden Satz: "Adenauer mag mehr Verdienste haben (. . .), als ich zu erkennen imstande bin, und möglicherweise hat er nur einen politisch gravierenden Fehler begangen: dass er zu lange regierte und mit greisenhafter Boshaftigkeit seine eigene Größe in lauter senile Kleinlichkeit auflöste."

Für Bölls Verhältnisse war das eine beinah glänzende Rehabilitierung des Alten - zu einer Zeit freilich, in der das Land die Adenauer-Ära schon hinter sich gelassen hatte. Der Westpolitik Adenauers war die Ostpolitik Willy Brandts gefolgt, die 68er-Generation hatte ihre Eltern geschüttelt und ihnen ihr beredtes Schweigen zur Nazi-Vergangenheit wütend vorgehalten; Brandt hatte den Friedensnobelpreis, Böll den Literaturnobelpreis erhalten. "Mehr Demokratie wagen" war zu einem neuen deutschen Motto und das Land aufgeklärter, rebellischer, auch schon ein wenig liberaler geworden.

Wiederaufbau als Lebensleistung

Schwarz-Rot-Gold: Die deutschen Farben zeigen sich in schöner Abfolge in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf das Schwarz der Adenauer-Zeit folgte das Brandt-und-Böll-Rot; darauf das Gold der Wiedervereinigung. Deren Gestaltung und Finanzierung war der letzte große Sieg der Generation der Ärmelaufkrempler und Zupacker. Mit dem Wiederaufbau im Westen hatte ihre große Lebensleistung begonnen, mit dem Wiederaufbau im Osten ging sie zu Ende. Das Billionenprogramm Aufbau Ost war das Konzentrat der Erfahrungen der Aufbaugeneration West. Der Westen investierte, was das Zeug hielt, baute und finanzierte Kläranlagen und Spaßbäder, und ging davon aus, dass diese Investitionen wie Trägerraketen die Demokratie in den Osten befördern. Für Nachdenklichkeit und Selbstbesinnung, für eine Diskussion über die Grundlagen des Staates und eine Verfassungsreform hatte man freilich 1990 so wenig Zeit wie 1948/49.

Der schwarze, der rote und der goldene deutsche Streifen wird zusammengehalten und verbunden von einem Gesetz, wie Deutschland zuvor nie eines hatte: Das Grundgesetz ist ein Segen für dieses Land. Aus dem seinerzeit von der Bevölkerung missachteten Grundgesetz, das 1948/49 in unsicherster Zeit in einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung geschrieben wurde, ist im Lauf der Jahrzehnte eine respektierte, geliebte und verehrte Verfassung geworden. Es war und ist wie ein Wunder:

Dieses Grundgesetz war die Bauordnung der jungen Bundesrepublik, es wurde zur Hausordnung der deutschen Demokratie. Und seine Grundrechte wurden zu einem Schlager, den man im Alltag auf den Lippen hat. Das alles ist unfassbar viel mehr, als es sich damals, vor sechzig Jahren, Hans Schnitzler auch nur erträumen konnte: Nein, wir müssen nicht mehr traurig sein.

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