Süddeutsche Zeitung

60 Jahre BRD:Adenauers symbolische Wiedergutmachung

Der Kanzler achtete genau auf die "Grenzen der deutschen Leistungsfähigkeit", bis heute gingen viele NS-Opfer leer aus.

Robert Probst

Wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verhandelten der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nachum Goldmann, und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer über die Entschädigung von Holocaust-Opfern. Die verantwortlichen Politiker der jungen Bundesrepublik hatten schnell eingesehen, dass sie das singuläre Menschheitsverbrechen der Nazis, die sechs Millionen Juden ermordet und weitere Millionen Menschen in Konzentrationslagern versklavt und gequält hatten, nicht mit den bisher üblichen Reparationszahlungen an betroffene Staaten "wiedergutmachen" konnten.

Erstmals in der Geschichte war ein Staat bereit, individuelle Entschädigungsleistungen an überlebende NS-Opfer zu zahlen - doch Adenauer dachte da eher an einen symbolischen Betrag. Und so kam es, dass im Bundesentschädigungsgesetz von 1953 festgelegt wurde: Pro Tag im KZ, Ghetto oder Zuchthaus gab es fünf Mark Entschädigung für "Freiheitsentzug". Also 150 Mark pro Monat in Auschwitz. Ob der Transport im Viehwaggon ins KZ schon zum "Freiheitsentzug" zählte, war zunächst freilich umstritten.

Doch niemand protestierte. Die Opfer waren froh um jede Mark, die ihnen nach den traumatischen Höllenqualen den Start in ein neues Leben erleichterte. Der junge, wirtschaftlich arg gebeutelte Staat Israel und die jüdischen Organisationen brauchten dringend Geld.

Im Luxemburger Abkommen von 1952 akzeptierte Israel eine Globalzahlung in Höhe von drei Milliarden Mark, die Jewish Claims Conference, ein Interessenverband nicht in Israel lebender Juden, erhielt 450 Millionen Mark. Damit waren alle Forderungen abgegolten.

Die deutschen Politiker waren zufrieden, denn Adenauer hatte am 27. September 1951 im Bundestag erklärt, schließlich müssten ja auch "die Grenzen berücksichtigt werden, die der deutschen Leistungsfähigkeit durch die bittere Notwendigkeit der Versorgung der zahllosen Kriegsopfer und der Fürsorge für die Flüchtlinge und Vertriebene gezogen sind".

Auch mit elf westeuropäischen (nach 1990 zudem Polen, Russland, Weißrussland und die Ukraine) wurden Globalabkommen vereinbart, mit denen alle Ansprüche abgegolten waren. Diese Abkommen umfassten etwa 1,5 Milliarden Euro. Für die Rückerstattung geraubten Vermögens auf deutschem Gebiet gab die Bundesrepublik etwa zwei Milliarden Euro aus.

Der größte Posten aber ist der individuelle Ersatz für Haftzeiten, Gesundheitsschäden und "erlittene Nachteile" in Form von Einmal- oder fortlaufenden Rentenzahlungen. Hierfür wurden bisher mehr als 58 Milliarden Euro aufgewendet - doch gerecht ging es dabei nicht immer zu. Experten schätzen, dass mehr als die Hälfte dieses Geldes an weniger als ein Drittel der Empfänger ausgezahlt wurden, vor allem an Deutschstämmige und solche NS-Opfer, die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugerechnet werden. Viele Anspruchsberechtigte (etwa Opfer der Wehrmachtsjustiz, Sinti und Roma, Zwangssterilisierte) wurden bis heute nicht berücksichtigt, für sie gibt es immerhin Härtefallfonds.

Besonders schlimm traf es die ehemaligen Zwangsarbeiter aus Osteuropa. Erst nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs und Klagedrohungen bekamen mehr als 1,66 Millionen Menschen von der gemeinsamen Stiftung des Bundes und der deutschen Wirtschaft in den Jahren 2001 bis 2006 etwa 4,4 Milliarden Euro ausbezahlt. Nicht wenige bezeichnen dies als die einzig wirklich erfolgreiche Großaktion der Regierung Gerhard Schröder.

Weniger gut klappte es bei den ehemaligen jüdischen Ghettoarbeitern; sie können seit 2002 eine Rente beantragen, doch die Ablehnungsquote liegt bei 90 Prozent, es laufen Tausende Gerichtsverfahren.

Dennoch gibt es auch 64 Jahre nach Kriegsende noch "vergessene Opfer", die größte Gruppe sind die ehemals mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Noch immer kämpfen sie um Anerkennung als NS-Opfer. Ebenso fordern die ehemaligen Italienischen Militärinternierten, die 1943/44 nach Deutschland verschleppt wurden, eine Entschädigung, es gibt diesbezüglich diverse Gerichtsverfahren und Verhandlungen zwischen Deutschland und Italien.

Einen "finanziellen Schlussstrich" unter die Vergangenheitsbewältigung wird es daher so schnell nicht geben. Zyniker sprechen mit dem Hinweis auf das hohe Alter der meisten NS-Opfer jedoch gern von einer baldigen "biologischen Lösung".

Insgesamt hat die Bundesrepublik bisher 65,1 Milliarden Euro für Entschädigungsleistungen ausgegeben, da die Rentenzahlungen weiterlaufen, werden im Lauf der Jahre noch einige Milliarden dazukommen. Die Ausgaben machten zu keinem Zeitpunkt mehr aus als 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder sieben Prozent des Bundeshaushalts.

Der Publizist Raul Teitelbaum hat ausgerechnet, was dies den einzelnen Bundesbürger gekostet haben mag. "Im Laufe von mehr als 50 Jahren entfielen auf jeden Deutschen alles in allem umgerechnet 984 US-Dollar. Das sind 19 Dollar pro Jahr und 1,60 Dollar pro Monat, weniger als ein Glas Bier. Mann kann also schlecht behaupten, dass der Preis, den die Deutschen aus eigener Tasche entrichten mussten, ein finanzielles Opfer darstellte, zumal Deutschland für dieses Taschengeld die ,moralische Eintrittskarte' für die Völkergemeinschaft erhielt."

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SZ vom 11.4.2009/bica
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