Süddeutsche Zeitung

50 Jahre nach Invasion:Der "Prager Frühling" spaltet Tschechien

50 Jahre nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen betreiben nicht nur Kommunisten und Rechtsradikale Geschichtsklitterung. Staatspräsident Zeman will nicht öffentlich gedenken - trotz der zahlreichen Toten und Vertriebenen.

Von Florian Hassel, Warschau

Moskauer Vorwürfe an die Adresse der Ukraine sind in jüngerer Zeit alles andere als selten. Doch dass nun aus dem tschechischen Prag Vorwürfe an Kiew zu hören waren, überrascht doch sehr: Anlässlich des 50. Jahrestags des Prager Frühlings heißt es da, nicht die Russen seien für die Invasion von 1968 verantwortlich, mit der Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 den Prager Frühling gewaltsam beendeten. Nein, schuld sei vielmehr die Ukraine - die damals aber, wie auch das heutige Russland, noch Teil der Sowjetunion waren.

So stellt jedenfalls Tschechiens Kommunistenchef Vojtěch Filip die jüngere Geschichte seines Landes dar. Die historische Sicht auf 1968 sei "zu 100 Prozent gefälscht" und stehe "auf den Füßen eines anti-russischen Standpunktes". Schließlich sei der damalige sowjetische Parteichef Leonid Breschnew ein Ukrainer gewesen, hätten ukrainische Soldaten "den Hauptanteil der Invasionstruppen" gestellt, habe 1968 im sowjetischen Politbüro "ein einziger Russe" gesessen - und ausgerechnet der habe gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen gestimmt, sagte Filip dem britischen Guardian und tschechischen Medien. Weder trage Moskau in Gestalt des heutigen Russland die Verantwortung, noch müssten sich die tschechischen Kommunisten im Zusammenhang mit dem Prager Frühling für irgendetwas entschuldigen, so der tschechische Kommunistenchef.

Die Aussagen Filips kamen nur wenige Tage, bevor Tschechien am Dienstag mit Reden, Ausstellungen und einem Konzert der Sängerin Marta Kubišová auf dem Prager Wenzelsplatz des Einmarsches von 250 000 Soldaten aus der Sowjetunion, Bulgarien, Polen, Ungarn gedenken wird. Filips Worte lösten in Prag Entrüstung aus: Folge man seiner Logik, seien auch "die Deutschen nicht für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich, weil Hitler Österreicher war", ätzte etwa die Parlamentarierin Markéta Pekarová Adamová von der konservativen Partei Top 09.

Zwar stimmt, dass 1968 der damalige ukrainische Kommunistenchef Petro Schelest als eines von elf Vollmitgliedern des sowjetischen Politbüros eifrig für eine Invasion in der Tschechoslowakei geworben hatte - er hatte mit gutem Grund ein Übergreifen des in der damaligen Tschechoslowakei um sich greifenden Demokratiegedankens auf die Ukraine befürchtet. Doch das sowjetische Politbüro wurde 1968 von fünf Russen dominiert. Parteichef Breschnew wurde zwar in der heutigen Ukraine geboren. Sein Vater aber war Russe, seine Staatsangehörigkeit ist, wie die so vieler im Vielvölkerstaat UdSSR, umstritten. In Moskau drängte 1968 unter anderem KGB-Chef Jurij Andropow zu einer Invasion; die endgültige Entscheidung zum Einmarsch fiel am 17. August 1968 im Politbüro, dem Sitzungsprotokoll zufolge einstimmig. Zudem ist Russland der Rechtsnachfolger der untergegangenen UdSSR.

Die Geschichtsklitterung des Prager Kommunistenchefs sorgt auch deshalb für Aufregung, weil die Kommunistische Partei und andere Moskau-Freunde in Tschechien ein halbes Jahrhundert nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings deutlich an Einfluss gewonnen haben. Tschechiens Kommunisten sind die einzige bis heute unreformierte KP in Zentral- und Osteuropa. Sie haben eine zwar alternde und damit schrumpfende, aber immer noch ansehnliche Wählerschaft. Bei der Parlamentswahl im Herbst 2017 kamen die Kommunisten auf knapp acht Prozent der Stimmen, seit einigen Wochen tragen sie gar die Regierung mit.

Weil der populistische Ministerpräsident Andrej Babiš, ein Milliardär, unter dem Verdacht millionenschweren Betruges steht, wollen etliche tschechische Parteien nicht mit ihm koalieren. Seit einem Deal im Juli tragen daher die 15 kommunistischen Parlamentarier die Babiš-Regierung im 200 Köpfe starken Parlament mit. KP-Chef Filip, ein 63 Jahre alter Anwalt, ist seit Kurzem stellvertretender Parlamentspräsident. Ministerpräsident Babiš, selbst ehemaliges KP-Mitglied, adelte den neuen De-facto-Koalitionspartner als "demokratische Partei", die sich "staatsbildend und konstruktiv" verhalte.

Tschechiens rechter Staatschef weigert sich, am blutigen Jubiläum eine Rede zu halten

Die kommunistische Herrschaft in der Tschechoslowakei war eine Gewaltherrschaft: Mehr als eine Viertelmillion Tschechen und Slowaken wurden wegen "politischer Verbrechen" verurteilt, Zehntausende zu Zwangsarbeit in Uran-Minen geschickt. Und zu denjenigen, die Moskau 1968 zum Einmarsch drängten, gehörten auch tschechische KP-Funktionäre. Der Invasion, bei der Bürger wie der 91 Jahre alte Antonin Abraham buchstäblich von Panzern überrollt wurden, kostete den tschechischen Historikern Prokop Tomek und Ivo Pejcoch zufolge allein in den ersten Tagen 138 Menschen das Leben; rund 400 Menschen starben später. Hunderttausende verloren in der Folge bei den zur "Normalisierung" erhobenen Repressionen der kommunistischen Hardliner ihre Arbeit. Rund 300 000 Tschechen und Slowaken flohen ins westliche Ausland.

Kommunistenchef Filip, dessen Parteizentrale in Prag in der "Straße der politischen Gefangenen" liegt, sieht mit Blick auf 1968 bis heute keinen Grund zur Entschuldigung und schwadroniert von einem angeblichen "anti-russischen Standpunkt". Dabei halten Teile des russischen Militärs die Niederschlagung des Prager Frühlings von 1968 bis heute für richtig. Mitte November 2017 kommentierte der vom russischen Verteidigungsministerium betriebene Fernsehsender Zwjesda auf seiner Webseite, die Tschechen sollten dankbar sein, dass die sowjetisch geführten Truppen 1968 einmarschiert seien und so einen angeblichen westlichen Coup in der CSSR verhindert hätten.

Im heutigen Tschechien hat Moskau neben den Kommunisten noch mehr Parteigänger: Etwa Präsident Miloš Zeman oder die im Oktober 2017 mit knapp elf Prozent der Stimmen ins Parlament gewählten rechtsradikale Partei SPD, die der Halbjapaner Tomio Okamura führt. Kommunistenchef Filip folgt jedoch ganz offen einer Moskauer Linie. Er plädiert für einen Austritt Tschechiens aus der Nato und für ein Referendum über den Austritt aus der EU. Im Gespräch mit der SZ im Oktober 2017 stellte Filip die Revolution auf dem Kiewer Majdan 2014 als angeblichen westlichen Coup dar und nannte die ukrainische Regierung ein "faschistisches Regime".

Petr Blazeks vom Institut zum Studium totalitärer Regime sieht in Filips Ukraine-Aussagen einen für Moskau sehr dienlichen Zweck. Es gehe offenbar darum, "von der "Besetzung der Krim durch Russland" abzulenken und die Ansprüche der Ukraine infrage zu stellen, so der Historiker in Radio Prag. In der Tat sind neben mehreren Politikern der tschechischen Rechtspartei SPD auch KP-Parteikollegen Filips regelmäßig zu Gast beim Moskauer Marionettenregime in der Ostukraine und auf der von Moskau rechtswidrig annektierten Krim. Sowohl Kommunisten wie rechtsradikale SPD-Politiker organisieren prorussische Veranstaltungen mit und plädieren für ein Ende der EU-Sanktionen gegen Moskau.

In Tschechien selbst stehen nicht nur die Kommunisten am Jahrestag in der Kritik. Präsident Zeman besucht häufig Präsident Putin, er wird vom Prager Thinktank "Europäische Werte" als "trojanisches Pferd des Kreml" eingeschätzt. Zwar werden am Dienstag Premier Babiš und andere Politiker vor der Zentrale des tschechischen Radios - der Sender stand im Zentrum der Straßenkämpfe gegen die Sowjet-Panzer - Kränze niederlegen und Reden halten. Zeman aber weigert sich zu sprechen. Er betrachte die Invasion als Verbrechen, sehe aber keinen Grund, die Besetzung 50 Jahre später durch eine Ansprache wieder zum Thema zu machen, hieß es offiziell.

Der Prager Autor Michael Horáček dagegen hält das Erinnern an den 50. Jahrestag des Einmarsches für wichtig: wegen der bis heute andauernden "Pflicht der Zaren", die "Macht und den Einfluss des russischen Imperiums auszuweiten", schrieb er in einem Zeitungsbeitrag. "Das Imperium war stark, die Tschechoslowakei schwach - vor allem im globalen Machtspiel. Und wenn wir von der Eroberung unserer Heimat lernen wollen, sollten wir uns daran erinnern - nicht nur im August."

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Quelle:
SZ vom 20.08.2018/bepe
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