Süddeutsche Zeitung

50 Jahre Auschwitz-Urteile von Frankfurt:Nazi-Verbrecher von nebenan

In der Boomzeit der 1960er Jahre zwang die Justiz die Deutschen, sich ihrer NS-Vergangenheit zu stellen. Der spektakuläre Auschwitz-Prozess durchbrach das bequeme Verdrängen. Vor 50 Jahren erging das Urteil.

Report von Ronen Steinke

Der junge Schriftsteller Horst Krüger ist mit offenem Schiebedach hergefahren, es ist eng gewesen auf den Straßen, es wurde gehupt.

Frankfurt am Main, das kommerzielle Zentrum der Bundesrepublik, wächst seit 1960 rasant in die Höhe, ein wenig hektisch und ordinär, wie Krüger findet, "eine Mischung aus Alt-Sachsenhausen und Klein-Chicago". Es ist ein silbrig strahlender Tag, an dem im Frankfurter Rathaus über die Hölle von Auschwitz verhandelt wird. Donnerstag, der 27. Februar 1964.

Als Krüger in den langen, mit billigem Holz vertäfelten Plenarsaal tritt, den die Stadträte vorübergehend freigeräumt haben, um einen angemessen großen Platz zu schaffen, da sitzen die Männer in ihren gleichförmigen Anzügen, Brillen und Haarschnitten bereits seit 20 Verhandlungstagen zusammen. Schon bald ordnet der Vorsitzende Richter eine zehnminütige Pause an, und etwa 120 Leute strömen aus dem Saal.

Ein paar SS-Schergen trinken Cola und rauchen

Die Herren zünden sich Zigaretten an, man steht in Grüppchen beisammen, Krüger fühlt sich an eine Theaterpause erinnert. Man diskutiert die Eindrücke, holt die Jacken von der Garderobe ab oder legt der Garderobenfrau ein paar Münzen hin und bekommt eine Cola. Endlich fragt Krüger einen Freund: Wo denn nun eigentlich die Angeklagten seien? Worauf der Freund ironisch lächelt und sagt: Die Angeklagten - sind mitten unter uns.

14 von ihnen sind auf Kaution auf freiem Fuß, sie bewegen sich nicht abgesondert, von Soldaten bewacht wie im Nürnberger Prozess gegen die 24 Hauptkriegsverbrecher oder in einen Glaskasten gesperrt wie der Holocaust-Organisator Adolf Eichmann in Jerusalem. Sondern ganz ohne aufzufallen.

Ein paar von ihnen genießen die Pause in einer großen, ledernen Sitzgruppe an einer Wand im Foyer, trinken Cola und Sinalco, rauchen Zigaretten, sehen dick und gemütlich aus, tragen dieselben Anzüge und modernen Nylonhemden - die neueste Errungenschaft der Textilbranche - wie die Juristen und Journalisten. Einer steht direkt neben dem ahnungslosen Krüger.

Auch im Saal sitzen die Angeklagten nicht herausgehoben. Auf der kleinen Anklagebank vor dem Richter ist nur jeweils Platz für den einen, der gerade am meisten im Fokus steht. Die übrigen belegen die vorderen Ränge im Zuschauerraum, und mancher nichts ahnende Besucher hat schon einen von hinten angetippt und freundlich flüsternd nach dem rätselhaften juristischen Geschehen da vorne gefragt.

Natürlich sind das Details. Natürlich macht es für die große juristische Auseinandersetzung, die im Dezember 1963 beginnt und am 20. August 1965 - vor genau fünfzig Jahren - mit der Urteilsverkündung endet und die erstmals vor den Augen der zahlreich geladenen Weltpresse das System der fabrikmäßigen Ermordung von Menschen in seinem ganzen Umfang aufklärt, keinen Unterschied, an welcher Stelle im Saal die Angeklagten sitzen oder dass sie für eine Cola anstehen wie alle anderen.

Allenfalls ist der souverän-geschäftsmäßige Umgang des Gerichts mit ihnen sogar seine Stärke und seiner Autorität zuträglich. Aber die kleine Verwirrung, die so entstehen kann, ist keine Nebensache. Man könnte sagen, dass sie sogar geradewegs zum Kern der Sache führt: Der Auschwitz-Prozess führt die Deutschen nicht an einen fernen Ort irgendwo im unbekannten Osten, sondern er legt schlicht mitten unter ihnen, mitten in der Boomzeit der 1960er-Jahre, einmal kurz die Lupe an.

"Gespenstisch" nennt das ein anderer Schriftsteller, Robert Neumann, nachdem er einen Vormittag im Frankfurter Zuschauerraum verbracht hat: "So wie die alle nicht auf ihren Plätzen sitzen, sind sie nicht mehr zu unterscheiden. Jeder Anwalt ein potenzieller Angeklagter. (. . .) Jeder Angeklagte dein Briefträger, Bankbeamter, Nachbar." Apotheker, Ingenieur, Kaufmann, Hausmeister, Buchhalter, Bankkassierer - das sind die Berufe, in welche die Täter von Auschwitz zurückgekehrt sind, die nun vor dem Schwurgericht stehen.

Oswald Kaduk, "einer der grausamsten, brutalsten und ordinärsten SS-Männer im KL-Auschwitz", wie es im Urteil heißen wird, arbeitet in Berlin als Krankenpfleger; die Patienten nennen ihn "Papa Kaduk", weil er sich so aufopfernd um sie kümmert. Ein anderer, Robert Mulka, wirkt mit schlohweißem Haar, gerötetem Gesicht und dem makellosen dunkelblauen Anzug wie ein Herr auf einer Aufsichtsratssitzung, meint ein Beobachter.

In Auschwitz war er die rechte Hand des Lagerkommandanten, verantwortlich für den Ausbau der Vernichtungskapazitäten; nun fährt er zwischen Verhandlungstagen nach Hamburg, um in seinem gut gehenden Geschäft nach dem Rechten zu sehen.

Das macht die enorme Wucht dieses Prozesses aus. Zwar geht es, wie immer in Strafprozessen, vordergründig um Vergangenes - 700 Seiten umfasst allein die nüchterne Auflistung aller Gräueltaten in der Anklageschrift, zwanzig Monate lang wird in Frankfurt gegen zwanzig Angeklagte verhandelt, es geht um Verbrechen, für die im Strafgesetzbuch die Worte fehlen, es wird der größte Prozess der deutschen Justizgeschichte.

Aber vor allem geht es in Frankfurt um die Gegenwart, in der jeder Krankenpfleger, Hausmeister und Bankkassierer in Deutschland eine Geschichte hat.

Wenn während der Verhandlung einmal die Fenster gekippt sind, wehen von draußen die leisen Geräusche der Tram herein, "Menschen, die jetzt um die Mittagszeit von Praunheim nach Riederwald fahren und an alles, nur nicht an Auschwitz denken", wie sich Horst Krüger erinnert. "Frauen mit Einkaufsnetzen und Männer mit schwarzen Aktentaschen.

Das Quietschen und Singen der Straßenbahn mischt sich seltsam mit der Stimme aus dem Lautsprecher, die jetzt von Kindern erzählt, die, weil das Gas zu knapp wurde, lebend ins Feuer geworfen wurden."

Vor einem halben Jahrhundert ist dieser Prozess zu Ende gegangen - mit den sehr emotionalen Schlussworten des Vorsitzenden Richters Hans Hofmeyer, bei denen dem gestandenen Juristen kurz die Stimme brach.

"Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann, ohne dass im Hintergrund und im Geist ihm die hohlen, fragenden und verständnislosen, angsterfüllten Augen der Kinder auftauchen, die dort in Auschwitz ihren letzten Weg gegangen sind."

Die Opfer und ihre Angehörigen hatten verstörenden Enthüllungen hinter sich. Etwa als in Frankfurt ein 17-jähriges jüdisches Mädchen erst aus der Zeitung erfahren musste, dass sein eigener Vater, Hersz Kugelmann, gerade im Auschwitz-Prozess als Zeuge ausgesagt hatte.

Mit fester Stimme hatte er beschrieben, wie er auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau seine Eltern und seine ersten beiden Töchter, neun und sechs Jahre alt, in den Gastod gehen sah. Zu Hause aber, bei der 17-jährigen Cilly, hatten stets die Worte versagt. "Unsere Eltern haben uns nichts erzählt", erinnert sich Cilly Kugelmann, die heute als Programmdirektorin am Jüdischen Museum in Berlin arbeitet. "Für mich waren das Symbol dieser Jahre die Medikamente, die meine Eltern schluckten, um ihre Leiden zu behandeln, die physischen und die psychischen."

Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess (einige kleinere folgten später) lief nicht auf eine bestimmte Person zu, sondern - das war damals die Besonderheit - auf ein soziales Phänomen. Es ging um die Arbeitsteilung, die nötig war, um reibungslos zu morden - das, was Historiker später als das zentrale Strukturmerkmal des Holocaust bezeichnen sollten.

Die Massenvernichtung hat darauf beruht, dass viele Räder ineinandergriffen - das war die zentrale Botschaft der Ankläger. Der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte als Jude und Sozialdemokrat einst selbst vor den Nazis fliehen müssen und setzte den Prozess und seine inhaltliche Linie nun gegen alle Widerstände durch.

Der tumben Willkür in Auschwitz freien Lauf gelassen

In der Maschinerie des Lagers hatten natürlich nur wenige selbst an der Tür der Gaskammer gestanden. Trotzdem trugen alle Mitschuld, so argumentierte Fritz Bauer. Das Morden funktionierte nur deshalb so diabolisch effizient, weil es arbeitsteilig geschah wie in einer Fabrik.

Um dies zu illustrieren, verlangte Fritz Bauer von seinem Juristenteam in Frankfurt, einen "Querschnitt durchs Lager" auf die Anklagebank zu bringen, "vom Kommandanten bis zum Häftlingskapo", und dieser Querschnitt umfasste dann niedrige Dienstgrade und Männer, die ihrer tumben Willkür in Auschwitz freien Lauf ließen, und Männer, die mit heißem Ehrgeiz an die Erfüllung ihrer Aufgabe gingen.

Fritz Bauer ließ sogar den SS-Mann, der in Auschwitz dafür verantwortlich war, die gestreifte Häftlingskleidung auszugeben, wegen gemeinschaftlichen Mordes anklagen. Das sollte ein Statement sein, ein Anschauungsbeispiel für Bauers zentrale juristische These.

Für sich betrachtet ist das Ausgeben von Häftlingskleidung natürlich kein Verbrechen. Aber genau diese isolierte Betrachtung, so Bauer, gehe bei einem derart hochorganisiert begangenen Verbrechen eben an der Sache vorbei. Es war ja nicht so, dass es solche SS-Wachleute gegeben hätte, deren Aufgabe der tägliche Massenmord war, und andere, die durch das Ausgeben von schützender Häftlingskleidung das Sterben bremsten.

Natürlich arbeiteten die einzelnen SS-Leute nicht gegeneinander, sondern sie arbeiteten mit verteilten Rollen an einem gemeinsamen Ziel. "Konzentrationslager gab es schon lange vorher", sagt später einmal Joachim Kügler, einer der jungen Staatsanwälte, die diesen Mammutprozess im Namen Fritz Bauers stemmten, "es gibt sie in vielen Teilen der Welt, in allen wird getreten, gefoltert und gehungert. Das Einzigartige von Auschwitz in meinen Augen ist Birkenau", das eigentliche Vernichtungslager, "das bisher noch nicht dagewesene fabrikmäßige Ermorden (...) mit Verwertung der Reste. Das hat noch keiner fertiggebracht."

Der SS-Scherge an der Tür der Gaskammer diente diesem Ziel, aber ebenso derjenige, der die zur Vernichtung durch Arbeit bestimmten Arbeitssklaven kahl schor oder in gestreifte Einheitskleidung steckte und so letzte Hemmungen bei den Tätern ausschaltete.

Allesamt, so argumentierte Fritz Bauer, waren sie mit dem Betrieb einer Tötungsfabrik beschäftigt, alle halfen sie beim Mord, denn einem anderen Zweck als diesem diente der "Betrieb" in den Vernichtungslagern der Nazis schließlich nie.

Die Frankfurter Richter schüttelten darüber nur den Kopf. "Was soll das?", herrschte am Rande des Prozesses einer der jungen Staatsanwälte Bauer an. Eine solche Konstruktion von Schuld werde der Bundesgerichtshof mit Sicherheit verwerfen, diese Argumentation sei geradezu fahrlässig. "Man setzt das Urteil aufs Spiel."

Die Frankfurter Richter verlangten konkrete Beweise für konkrete Morde. Den SS-Mann, der die gestreifte Häftlingskleidung ausgab, sprachen sie deshalb am Ende frei.

Erst im Jahr 2011, im Münchner Urteil gegen John Demjanjuk, einen ukrainischen Wachmann in der Tötungsfabrik Sobibor, haben sich deutsche Richter zum ersten Mal der Argumentation Fritz Bauers angeschlossen: Der Nachweis einzelner Gewalttaten sei nicht erforderlich, um einen Sobibor-Wachmann der Beihilfe zum Mord schuldig sprechen zu können.

Was immer er in dem Apparat dort auch tat, es diente dem Morden; seine einzige moralische Option wäre Verweigerung gewesen. Allerdings wurde das Demjanjuk-Urteil nie rechtskräftig, weil der gebürtige Ukrainer vorher verstarb.

Entkräftete Legende von erzwungenen Verbrechen

Die Anklage im Frankfurter Auschwitz-Prozess nutzte den Gerichtssaal ganz gezielt, um auf großer Bühne historische Aufklärung zu betreiben - eine Art Klassenzimmer der Nation. "Selbst auf die Gefahr hin, dass der Staatsanwaltschaft die Veranstaltung eines Schauprozesses vorgeworfen werden könnte, soll die Verhandlung ein großes Bild des Gesamtgeschehens der angewandten Politik geben", erklärt Generalstaatsanwalt Fritz Bauer einmal in kleiner Runde.

Er hat Historiker eingeladen, die vor Gericht Referate über Auschwitz halten sollen. Selbst der junge Staatsanwalt Joachim Kügler sitzt dann, wie er sich später erinnert, "mit offenem Mund" im Gerichtssaal: "Da war vieles neu für mich."

Die eingeladenen Historiker entkräften etwa die Legende, die Wachleute von Auschwitz seien zu ihren Verbrechen gezwungen worden. Wer wollte, habe Auschwitz verlassen und in den regulären Kriegsdienst wechseln können.

Ein bedeutender Prozess wird es dann nicht wegen der juristischen Feinheiten des 920 Seiten umfassenden Urteils, das im August 1965 ergeht und das für den Ankläger Fritz Bauer auch einige bittere Enttäuschungen enthält.

Die Bilanz der Richter: sechs Mal lebenslang, elf zeitlich begrenzte Haftstrafe, die kürzeste beträgt drei Jahre und drei Monate, die längste 14 Jahre; hinzu kommen drei Freisprüche.

Ein bedeutender Prozess wird es schon allein, weil nun überhaupt ein 920-seitiges Urteil über die historische Wahrheit von Auschwitz entstanden ist, an dessen Inhalt fortan niemand mehr vorbei kommt. Das ist es, was die Frankfurter Justiz erreicht hat, als am 20. August 1965 der Prozess endet.

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