Süddeutsche Zeitung

30 Jahre Mauerfall:Rosen, Wahrheit und Feuerwerk

Lesezeit: 3 min

Kanzlerin Merkel fordert dazu auf, "das Unsere für Freiheit und Demokratie zu tun." Bundespräsident Steinmeier bedankt sich bei Polen, Tschechen, Ungarn und Slowaken für ihren Mut. 100 000 Menschen feiern in Berlin.

Von Stefan Braun, Berlin

Der Bundespräsident spricht von der "Nacht der Nächte, nach der nichts mehr war wie zuvor". Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls ruft Frank-Walter Steinmeier die Menschen am Brandenburger Tor dazu auf, "Mauern aus Frust, Mauern aus Wut und Hass" zu durchbrechen. "Die Berliner Mauer, die hatte Ulbricht erbaut", sagt der Bundespräsident bei der zentralen Feier zum 9. November am Samstag, "aber die neuen Mauern in unserem Land, die haben wir selbst gebaut. Und nur wir selber können sie einreißen." Die Rede ist das Finale eines langen Tages. Am Vormittag zeigt sich Kanzlerin Angela Merkel an der Mauer-Gedenkstätte in der Bernauer Straße den Leuten in Plauderlaune. Selten kann man die Kanzlerin derart gelöst und vor der Zeit erleben. Als wolle sie ihre Freude darüber an diesem 9. November 2019 ganz besonders zeigen, dass aus der einstigen Jung-Wissenschaftlerin nach der Wiedervereinigung eine Ministerin, eine Parteichefin und eine deutsche Regierungschefin wurde. Sie strahlt die Leute an, geht selbst auf einige zu, mag sich trotz Aufforderung so gar nicht auf den Stuhl setzen, den ein Ordner ihr früh zuweisen möchte. In der Hand hält Merkel eine orangefarbene Rose; wie alle Ehrengäste und überhaupt alle Besucher an diesem Tag hat auch die Kanzlerin eine Blume in die Hand bekommen, um sie später in eine Ritze des hier verbliebenen Mauerstücks zu stecken. Mit Rosen die Mauer durchlöchern - das soll das Bild werden für diesen Gedenktag.

In der Gedenkkappelle sagt Merkel ein später paar Worte. Sie erinnert an die Freude vor 30 Jahren, aber auch an die Pogromnacht am 9. November 1938. Das soll keinesfalls untergehen, auch nicht an einem ansonsten freudigen Jubiläum wie diesem. Zum Schluss zitiert die Kanzlerin Reiner Kunze, den Schriftsteller, der 1976 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurde und im Jahr darauf in die Bundesrepublik übersiedelte. Zur Mauer schrieb er: "Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns. Wir hatten uns gewöhnt an ihren Horizont. Und an die Windstille. In ihrem Schatten hatten alle keine Schatten. Nun stehen wir entblößt jeder Entschuldigung." Das, so Angela Merkel, gelte heute für alle, in Ost und West: "Wir stehen da entblößt jeder Entschuldigung und sind aufgefordert, das Unsere für Freiheit und Demokratie zu tun."

Im Wendelook: Auch wenn ihre Kostümierung anderes vermittelt, haben diese Besucher der Gedenkfeier die Zukunft im Blick und fordern eine Gesellschaft der Vielen.

Kanzlerin in Plauderlaune: In ihrer Rede fordert Angela Merkel dazu auf, für Freiheit und Demokratie einzustehen.

Zwei Stunden Bühnenprogramm: Mehr als 100.000 Menschen sind zur Party am Brandenburger Tor gekommen und haben unter anderem die Show einer Tanzgruppe verfolgt.

Gedenken an vielen Orten: Auch an der Glienicker Brücke, die während des Kalten Kriegs als Ort für den Austausch von Agenten bekannt war, wurde an diesem Wochenende gefeiert.

Freudenfeuer: Die Feierlichkeiten am Brandenburger Tor werden schließlich mit einem Feuerwerk beendet.

Vor Merkel hat bereits die ehemalige Bürgerrechtlerin Hildigund Neubert gesprochen. Unter den mehreren Hundert Gästen, die ihr zuhören, sind auch die Staatsoberhäupter von Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte sie eingeladen. Neubert spricht zu ihnen über den Mut vorher und die Sorgen nachher. Ausführlicher als alle anderen aber spricht sie auch über die Schmerzen und die Trauer, die so viele Menschen mit der Mauer verbinden. Und über die Jahre, in denen die Mauer von vielen, viel zu vielen Menschen hingenommen worden sei.

Steinmeier spricht an diesem Vormittag mehr über die Gegenwart. Ihn beschäftigt mehr denn je die harte, ja garstige politische Lage in Europa. Deshalb wollte er diesen Tag für eine kleine Brücke in den Osten nutzen, deshalb die Einladung an seine Kollegen aus den Visegrád-Staaten. Steinmeier wollte ihnen bei allen Konflikten in der EU noch einmal auf besondere Weise danken. Verbunden sicher auch mit der Hoffnung, dieser Dank für großes Historisches könne manchem aktuellen Streit vielleicht die Spitze nehmen. Und so stehen Milos Zeman, der tschechische Präsident, Andrej Duda aus Polen, Janos Ader aus Ungarn und die Slowakin Suzana Caputova an diesem Morgen unter einem sehr grauen Berliner Himmel, als Steinmeier an alle, aber ganz besonders an diese vier gerichtet seine zentrale Botschaft vorträgt: "Ohne den Mut und den Freiheitswillen der Polen und der Ungarn, der Tschechen und Slowaken", so der Bundespräsident, "wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen." Der Tag erinnere an eine große historische Leistung, sagt Steinmeier, aber auch an die Tatsache, "dass wir heute in Europa zu unserem Glück vereint sind."

Am Nachmittag beginnen dann die Feierlichkeiten. Das Mauerfall-Fest am Brandenburger Tor muss wegen Überfüllung sogar geschlossen werden, mehr als 100 000 Menschen feiern laut Polizeiangaben "völlig friedlich". In seiner Rede an die Bürger würdigt der Bundespräsident auch die Unterstützung der Vereinigten Staaten. "Dieses Amerika als Partner in gegenseitigem Respekt, als Partner für Demokratie und Freiheit, gegen nationalen Egoismus - das wünsche ich mir auch in Zukunft", sagte er unter dem Applaus der Zuhörer an die amtierende Administration unter Donald Trump gewandt. Steinmeiers besonderer Dank gilt jedoch den "Mutigen in der DDR". Er begrüßt, dass derzeit wieder so viel über die Wiedervereinigung und ihre Folgen diskutiert werde. "Es wird nie die eine definitive, die offizielle Geschichte der Deutschen Einheit geben", sie bestehe viel mehr aus den vielen Geschichten der damals Beteiligten. Für die Gegenwart wünscht sich der Bundespräsident mehr von dem Mut von 1989: "Ziehen wir uns nicht zurück hinter Mauern und in Echokammern. Sondern streiten wir für diese Demokratie!" Ganz am Ende kommt ein großes Feuerwerk.

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Quelle:
SZ vom 11.11.2019
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