25 Jahre letzte DDR-Regierung:Tapfere Dilettanten

Wahlsieger de Maiziere 1990

Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR, freut sich über seinen Wahlsieg.

(Foto: dpa)

Skandale, Krisen und Spione aus der Kohl-Regierung: Am 12. April 1990 tritt die letzte DDR-Regierung um Lothar de Maizière ihr Amt an - und hat mit reichlich Widerstand zu kämpfen.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Lothar de Maizière hebt beide Hände. Ein Antrag zur Geschäftsordnung. Parlamentspräsidentin Sabine Bergmann-Pohl ruft ihn auf. In ihrer Stimme liegt eine gewisse Gereiztheit. Jahre später wird sie sagen, sie sei "richtiggehend wütend" auf de Maizière gewesen damals. Und dass sie fast zurückgetreten wäre von ihrem neuen Amt.

De Maizière geht zum nächsten Mikrofon in der Volkskammer der DDR, das rechts hinter ihm im Gang steht. "Frau Präsidentin, meine Damen und Herren. Ich glaube, dass das, was im Moment passiert, des hohen Hauses nicht würdig ist." Er bittet um 15 Minuten Pause, um ein Verfahren zu finden, "wie wir diesen Tag in der angemessenen Weise gestalten können".

Der Tag, um den es hier geht, ist der 12. April 1990. Vor 25 Jahren wählte die erste frei gewählte Volkskammer der DDR ihre erste - und letzte - Regierung. Mit dem Anwalt Lothar de Maizière an der Spitze. Es geht hoch her in dieser zweiten Sitzung der Volkskammer nach der Wahl am 18. März. CDU, SPD und Liberale haben sich zu einem Regierungsbündnis zusammengeschlossen.

Fristen und Formfehler, ein Hin und Her

Der Koalitionsvertrag ist kurz vor Beginn der Plenumssitzung unterzeichnet worden. Und jetzt kämpft die CDU im Auftrag von de Maizière darum, dass er den Amtseid nicht auf die Verfassung der DDR ablegen muss.

Es geht um Fristen und Formfehler in dem Antrag. Ein Hin und ein Her. Die Abgeordneten reden durcheinander. Die Mikrofone sind alle offen. Am Ende verlassen die Grünen zur finalen Abstimmung das Plenum. De Maizière setzt sich durch. Als er später nach seiner Wahl von Bergmann-Pohl den Amtseid vorgelesen bekommt, schwört er - "so wahr mir Gott helfe" - Recht und Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik zu achten. Der "sozialistischen Lyrik" in der Verfassung aber, wie SPD-Fraktionschef Richard Schröder es ausdrückt, muss er sich damit nicht unterwerfen.

Die erste und letzte frei gewählte Regierung der DDR steht. Das einzige politische Ziel der 23 Ministerinnen und Minister ist die Wiedervereinigung mit West-Deutschland. In der ersten Sitzung des Ministerrates erinnert de Maizière seine Kollegen daran: "Unsere Aufgabe ist es, uns abzuschaffen."

173 Tage werden sie dafür haben. Sie werden in der Zeit das komplette Steuerrecht der DDR an das West-System anpassen, Bundesländer gründen und Landtagswahlen ermöglichen, die kommunale Selbstverwaltung einführen. Sie werden mit den Polen, den Russen, den Amerikanern, den Briten und Franzosen verhandeln. Und immer wieder mit der Regierung von Helmut Kohl. Um Arbeitsplätze, um Erhaltenswertes der DDR, um den Verbleib der Stasi-Akten.

Es werden 173 Tage unter Schlafentzug sein, wie sich de Maizière erinnert. "Morgens um halb acht wurde ich eingesammelt, nachts um eins wieder ausgekippt." 15 Kilo abgenommen habe er in den knapp sechs Monaten.

Keine Büros, keine Mitarbeiter

Vieles läuft schief, muss schief laufen. Die Volkskammer ist für die neue Zeit nicht gewappnet. Vor der ersten freien Wahl war sie ein Parlament für Hobbyabgeordnete, das vielleicht zwei Mal im Jahr zusammenkam und nichts ernsthaft zu melden hatte. Abnicken und Beifall klatschen waren die vornehmlichen Aufgaben der früheren Volkskammer-Abgeordneten. Keine Büros, keine Verwaltung, keine Mitarbeiter.

Der Apparat für eine parlamentarische Kontrolle und Gesetzgebung muss erst aufgebaut werden. Umso erstaunlicher, dass die Abgeordneten am Ende in 38 Sitzungen 164 Gesetze verabschiedet, 756 Kabinettsvorlagen bearbeitet und 93 Beschlüsse gefasst haben. Weit mehr als die gut geölte Gesetzesmaschinerie des Bundestages in ähnlicher Zeit abarbeitet.

Illoyal sind die ausgeliehenen Westbeamten

Die ganze DDR-Regierung, alles Laien. Keine Politprofis wie Helmut Kohl oder dessen Unterhändler Wolfgang Schäuble und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, mit allen Wassern gewaschen.

Die letzten DDR-Minister haben zwar einen Apparat unter sich. Aber sie stehen Mitarbeitern vor, die jahrzehntelang voller Überzeugung dem Sozialismus gedient haben. Und ihn jetzt mit noch größerer Hingabe abschaffen sollen. Ohne Aussicht auf eine Anschlussverwendung im neuen, gemeinsamen, kapitalistischen Deutschland.

Rainer Eppelmann, vom Kriegsdienstverweigerer und Pfarrer zum Minister für Verteidigung und Abrüstung aufgestiegen, ist jetzt umgeben von Offizieren und Generälen der Nationalen Volksarmee. Es gibt Bilder, auf denen wird er von den sozialistischen Ordensträgern so misstrauisch beäugt wie heute der griechische Ministerpräsident Tsipras im Kreis seiner EU-Kollegen.

Die Überraschung ist: Weder Eppelmann, noch de Maizière, noch Außenminister Markus Meckel wollen echte Illoyalität erfahren haben. Die beobachten sie eher unter ausgeliehenen West-Beamten. Abrüstungsminister Eppelmann bat BRD-Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg um einen versierten Mitarbeiter, der die Bundeswehr bis ins Detail kennt. Stoltenberg schickt einen Mann nach Berlin. Aber der schickt regelmäßig an Eppelmann vorbei Berichte aus internen Sitzungen nach Bonn. Als Eppelmann davon erfährt, muss der Mann zurück in den Westen.

Schon technisch ist die DDR-Regierung unterlegen. Den Kulturminister lässt de Maizière einmal über den DDR-Rundfunk ausrufen, er möge sich dringend in Berlin melden. Er ist anders nicht zu erreichen. Es klappt.

Kohls Agenda: sein Ruhm

Aus Bonn gibt es zwar Unterstützung. Aber Kohls Agenda ist klar: Sein großes Ziel ist natürlich die Wiedervereinigung. Aber sein zweites, nicht weniger wichtiges Ziel lautet: Den Ruhm will er allein ernten. Er, Kohl, Kanzler der Einheit. Das soll sein Platz in den Geschichtsbüchern sein. Das bedeutet auch, die Kollegen aus dem Osten sollen bitte nichts auf eigene Faust wagen.

Machen aber manche. Markus Meckel zum Beispiel, SPD. Seine erste Reise führt den vollbärtigen Außenminister nach Warschau. Nicht etwa nach Bonn. Ein Affront des damals 37-Jährigen. Auch wegen des Themas. Er will den Polen signalisieren, eure Westgrenze ist sicher, sie wird nicht angetastet werden von einem wiedervereinigten Deutschland.

Bis heute streiten Meckel und de Maizière über eine Frage

Kohl aber ist schon wieder im Wahlkampfmodus. Die Heimatvertriebenen sollen nicht verärgert werden. Eine endgültige Vereinbarung über die Oder-Neiße-Grenze solle es deshalb erst nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 geben.

Kohl setzt sich durch. Ein paar deutliche Worte gegenüber Lothar de Maizière sollen genügt haben. Es werden zwar am 21. Juni 1990 gleichlautende Erklärungen von Bundestag und Volkskammer zur Unverletzlichkeit der polnischen Ostgrenze verabschiedet. Aber erst nach der Wiedervereinigung wird am 14. November 1990 ein völkerrechtlicher Vertrag zur Grenzfrage abgestimmt und unterzeichnet.

Die notwendige Ratifizierung im Bundestag lässt Kohl erst weit nach der Wahl zu. Bis heute streiten sich Meckel und de Maizière darüber, welcher Weg der bessere gewesen wäre.

Immerhin kann Meckel durchsetzen, dass die Polen an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Souveränität des geeinten Deutschlands beteiligt werden. Immer wenn es um Grenzfragen geht, sitzt mit den Vertretern der beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich auch ein Pole am Tisch.

Es gibt noch viel mehr zu tun. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, unterschrieben am 12. September 1990 in Moskau, ist sicher das wichtigste Vertragswerk, das die letzte DDR-Regierung auf den Weg bringt. Ohne die Zustimmung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges hätte es die Wiedervereinigung so schnell nicht gegeben.

Die Wirtschafts-, Sozial- und vor allem die Währungsunion zum 1. Juli 1990 aber ist das wichtigste innenpolitische Signal. Auf einen Schlag wird das Alu-Ostgeld für die Bürger eins zu eins in harte D-Mark umgewandelt. Allerdings mit der fatalen Folge, dass die marode Ost-Wirtschaft von heute auf morgen ihre Wettbewerbsfähigkeit verliert. Zigtausende Menschen werden in den Monaten danach arbeitslos.

Mitten im geordneten Chaos: eine Regierungskrise

Die Menschen in der DDR interessieren sich kaum für die Arbeit ihrer neuen Regierung. Sie wollen eine schnelle Wiedervereinigung "in der Hoffnung auf sofortigen Wohlstand", sagt Markus Meckel heute. Fast wäre die Einheit schon im Juni gekommen.

Die DSU, der DDR-Ableger der bayerischen CSU, hatte es besonders eilig. Am 17. Juni stellt sie überraschend den Antrag auf sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Zwei Drittel der Abgeordneten in der Volkskammer sind dafür, den Punkt auf die Tagesordnung zu nehmen. Nur mit Mühe gelingt es, den Antrag lediglich an die Ausschüsse zu überweisen.

De Maizière macht sich selbst zum Außenminister

Und mitten in dem geordneten Chaos dieses halben Jahres bricht eine Regierungskrise aus. Im Streit über die Wirtschaftspolitik schmeißt de Maizière im August 1990 kurzerhand den SPD-Finanzminister Walter Romberg aus dem Kabinett. Die anderen SPD-Minister verlassen umgehend den Ministerrat. Meckel ist ohnehin überzeugt, dass de Maizière nur noch parteitaktische Interessen verfolgt. Kohl will sich den gesamtdeutschen Wahlsieg im Dezember sichern. De Maizière will ihm dabei nicht im Weg stehen. Die Liberalen hatten die Regierung bereits Ende Juli verlassen.

Die freien Ministerposten besetzt de Maizière nicht mehr nach. Er selbst übernimmt die Aufgaben des Außenministers. Die DDR-Regierung ist jetzt vollständig in CDU-Hand. Verhandelt werden muss dennoch. Ohne Mehrheit in der Volkskammer kann de Maizière mit seiner Minderheits-Regierung nichts durchsetzen.

Ein Großteil der Arbeit ist zu dem Zeitpunkt schon gemacht. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist auf der Zielgeraden, die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion umgesetzt. Es fehlt noch der Einigungsvertrag zwischen DDR und Bundesrepublik. Zuletzt streiten die beiden Seiten noch um den Abtreibungsparagraphen 218 und die Stasi-Unterlagen. Die Lösung findet sich am Vorabend der Vertragsunterzeichnung am 31. August 1990: Das liberale Abtreibungsrecht der DDR bleibt bis zu einer gesamtdeutschen Regelung 18 Monate nach der Wiedervereinigung bestehen. Und die Stasi-Akten bleiben bis zum Aufbau der Stasi-Unterlagen-Behörde Ende 1991 in der Obhut der neuen Länder.

Selbst von einem handfesten Skandal bleibt die Regierung nicht verschont. Innenminister Peter-Michael Diestel reißt sich kurz nach Amtsantritt das Gästehaus seines Ministeriums im nahen Zeuthen zum Schnäppchenpreis unter den Nagel, eine Villa am See für knapp unter umgerechnet 100 000 Euro. Sie soll tatsächlich einen Wert von mindestens 385 000 Euro haben. Über 1000 Zeuthener gehen damals gegen Diestel auf die Straße. Jahre später verwarnt ihn ein Gericht wegen Untreue.

Viele der 23 Tapferen dieser ersten, frei gewählten DDR-Regierung sind heute in Rente, manche schon tot. Meckel und Eppelmann hält es in der Politik, sie bleiben Parlamentarier. Lothar de Maizière bleibt nach der Wende noch ein Jahr im Bundestag. Danach zieht es ihn in den Anwaltsberuf zurück. Regine Hildebrand, Sozialministerin, unter de Maizière, wird noch im Herbst 1990 Sozialministerin im neuen Bundesland Brandenburg. Das Amt behält sie bis 1999, zwei Jahre später stirbt sie.

Mit dem 3. Oktober 1990 endet die DDR, endet die Arbeit der DDR-Regierung. Tausende Mitarbeiter des DDR-Regierungsapparates verlieren mit dem Tag ihre Jobs. Der Übergang, er war so geordnet wie es eben ging. De Maizière hatte diese Losung ausgegeben: So schnell wie möglich, so gut wie nötig zur deutschen Einheit. Welche Note er sich heute dafür geben würde? De Maizière zögert nicht: "Also ich würde sagen, zwei plus."

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