sueddeutsche.de: Frau Beck, wenn Sie sich erinnern an die Anfangstage der Grünen im Bundestag - wie war es, plötzlich als außerparlamentarisch Bewegte in diesem ehrwürdigen Hohen Haus zu stehen?
Der erste Tag im Bundestag: Die Grüne Marieluise Beck (M.) saß nur wenige Meter von Helmut Kohl (r.) entfernt.
(Foto: Foto: ap)Marieluise Beck: Ich würde gerne noch ein paar Tage zurückgehen in der Zeit. Der Weg vom Bonner Hauptbahnhof zum Bundestag war schon großartig. Wir waren dort gemeinsam angekommen. Und dann stiegen wir aus und haben uns alle gefragt: Wo geht es denn hier zum Bundestag?
sueddeutsche.de: Sie waren vorher nie dort?
Marieluise Beck: Doch schon, auf Demonstrationen. Aber das hat nicht geholfen, die Stadt kennenzulernen. Wir sind dann gemeinsam mit der U-Bahn gefahren.
sueddeutsche.de: Linie 61/62 nach Bad Godesberg ...
Marieluise Beck: ... Ausgang Tulpenfeld. Dann fuhren wir die Rolltreppen hoch und kamen auf diesen Platz, von wo es ins Regierungsviertel ging. Das hatte etwas Unwirkliches. Weil der Gedanke für mich so unvorstellbar war, dass wir jetzt tatsächlich ordentliche Parlamentarier sein sollten.
sueddeutsche.de: Zwischen dem Wahlabend am 6. März 1983 und der ersten U-Bahn-Fahrt als Bundestagsabgeordnete waren ja ein paar Tage vergangen. Hat die Zeit nicht ausgereicht, sich an den Gedanken zu gewöhnen?
Marieluise Beck: Nein. Es war ja auch nichts wirklich geklärt. Ich wusste überhaupt nicht, wie wir uns als Grüne in diesem eingeschliffenen Apparat Bundestag orientieren können. Der hat uns ja nun nicht gerade mit großer Freude in Empfang genommen.
sueddeutsche.de: Und - wie haben sich die Grünen dann orientiert?
Marieluise Beck: Mit zwei Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, die sich nach unserem Wahlerfolg als Grüne outeten. Das haben sie vorher nicht gewagt. Ich habe damals sehr darum geworben, dass die beiden auf der Stelle Mitarbeiter der Fraktion werden sollten. Wir wären sonst verloren gewesen, in diesem großen System, das uns nicht haben wollte.
sueddeutsche.de: Und das erst mal keine passenden Räume zur Verfügung gestellt hatte.
Marieluise Beck: Richtig. Das politische Bonn hatte sich im Drei-Parteien-System eingerichtet. Es war auf eine vierte Fraktion überhaupt nicht vorbereitet. Es gab für uns keinen Platz. Wir hatten keine Büroräume - weder für alle Abgeordneten, noch für die Fraktionsführung.
sueddeutsche.de: Was zu heftigem Streit geführt hat.
Marieluise Beck: Es gab ja ein Abgeordnetenhochhaus, den "Langen Eugen", und gegenüber in der alten Pädagogischen Hochschule waren die Büros der Fraktionsspitzen. Uns wollte man in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude im Tulpenfeld einquartieren ...
sueddeutsche.de: ... zu Fuß etwa fünf Minuten vom Bundestag entfernt.
Marieluise Beck: Ja, wir hatten dann eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob wir alle ins Tulpenfeld ziehen sollten. Einige fühlten sich nicht gleichberechtigt untergebracht. Otto Schily ...
sueddeutsche.de:... mit Ihnen und Petra Kelly der erste Sprecher der Fraktio n...
Marieluise Beck: ... bestand darauf, dass wir der Kleiderordnung nach gleichberechtigt behandelt werden mussten. Zumindest für den Vorstand sollte es Räume in der alten Pädagogischen Hochschule geben.
sueddeutsche.de: Woran ist das gescheitert?
Marieluise Beck: (lacht) Oh, das war großartig. Man hatte tatsächlich irgendwelche Räume in diesem Komplex ausfindig gemacht, die irgendwie unterhalb des Wasserspiegels vom Rhein lagen. Die machten eher den Eindruck von Gefängniszellen. Einen halben Meter unter der Decke gab es so schmale Fensterchen. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man die Schiffe vorbeifahren sehen.
sueddeutsche.de: Das war ja genauso ein Politikum, wie die Frage, wo sie als Grüne im Bundestag sitzen durften.
Marieluise Beck: Oh ja. Das ist etwas, was wir uns vielleicht auch heute noch in Erinnerung rufen können. Wir haben wie die Löwen darum gekämpft, nicht links von der Sozialdemokratie sitzen zu müssen - sondern zwischen SPD und CDU. Das war ein harter Kampf. Wir hatten sogar gedroht, unsere Plätze nicht einzunehmen, sondern stehen zu bleiben, wenn der Ältestenrat uns ganz links platziert hätte.
sueddeutsche.de: Warum war Ihnen das so wichtig?
Marieluise Beck: Dahinter steckte der vielleicht etwas einfältige Spruch: "Weder rechts noch links, sondern vorn". Der Satz war für die meisten von uns Teil unseres Selbstverständnisses.
sueddeutsche.de: Gab es eine Führung durchs Parlament für die Neulinge?
Marieluise Beck: Es gibt Fotos von Petra Kelly, die vorher mal rein durfte. Sonst gab es nichts. Es gab ja eine sehr große Skepsis uns gegenüber. Aber es gab auch Menschen, die sich sehr rührend um uns gekümmert haben. Einer war Saaldiener, Herr Schmidt hieß er, glaube ich. Der war zugleich Hausmeister.
sueddeutsche.de: Und Politiker?
Marieluise Beck: Das war schwieriger, aber es gab sehr korrekte Kolleginnen, die uns wie gleichberechtigten Parlamentariern begegneten. Dazu gehörte auch Hildegard Hamm-Brücher von der FDP.
sueddeutsche.de: Sie haben in ihrer ersten Rede vor dem Bundestag gesagt, zu den tragenden Elementen grüner Politik gehöre Sanftheit. Im Sitzungsprotokoll von damals steht "Zustimmung der Abgeordneten Frau Hamm-Brücher".
Marieluise Beck: Frau Hamm-Brücher ist eine großartige Dame. Für sie war klar: Wer als Parlamentarier gewählt ist, der ist jetzt ebenbürtig. Das haben nicht alle so gesehen. Mein Satz von der Sanftheit hatte übrigens noch ein Nachspiel: Der frisch gewählte Parlamentspräsident Rainer Barzel von der CDU hat mich daraufhin zum Essen eingeladen.
sueddeutsche.de: Was wollte er?
Marieluise Beck: Mich fragen, was ich mit dem Satz verbunden habe, warum ich von Sanftheit gesprochen habe.
sueddeutsche.de: Warum hat ihn das interessiert? Sie waren doch der Klassenfeind.
Marieluise Beck: Ich glaube, in diesem Politikbetrieb waren viele einfach erstaunt darüber, dass im Bundestag solche Wörter fallen. Dazu noch von einer, die damals ja völlig unbekannt war. Der Begriff spiegelte mein Gefühl zu den Grünen wieder. Das Gefühl war, dass wir eine Partei sind, die ganz stark auf ethischen Grundsätzen fußt, auf Gewaltfreiheit. Und dazu gehört, dass wir auf Dialog, auf Vermittlung setzen.
Auf der nächsten Seite: Mit Tränen in den Augen in der öffentlichen Fraktionssitzung.