25 Jahre Atomkatastrophe in Tschernobyl:Der Super-GAU als Strafe Gottes

Das Feuer des Elias, die Fackel des Johannes - für viele der gläubigen Christen und Juden, die in Tschernobyl der Opfer der Reaktorkatastrophe gedenken, war das Unglück eine Strafe Gottes für den Abfall vom Glauben im Kommunismus.

Thomas Urban, Tschernobyl

Die Natur hat sich längst den Sitz der Kommunistischen Partei von Tschernobyl zurückgeholt, Birken wachsen in der Eingangshalle, das Dach ist überwuchert, die Fenster eingeschlagen. Vor 25 Jahren flohen die Parteifunktionäre von hier. Eine der beiden Frauen, die die Bordsteine auf der Straße weiß anstreichen, sagt: "Zwei Tage vor allen anderen sind sie hier abgehauen!"

25 Jahre Atomkatastrophe in Tschernobyl: An kirchlichen Feiertagen pilgern Gläubige zu Gottesdiensten nach Tschernobyl. Nicht wenige von ihnen sehen in dem Super-GAU, der eine Strahlenwolke über Europa schickte, die Strafe Gottes für den gottlosen Kommunismus.

An kirchlichen Feiertagen pilgern Gläubige zu Gottesdiensten nach Tschernobyl. Nicht wenige von ihnen sehen in dem Super-GAU, der eine Strahlenwolke über Europa schickte, die Strafe Gottes für den gottlosen Kommunismus.

(Foto: AP)

Sie hätten damals sofort erfahren, dass die Explosion im Atomkraftwerk auf der anderen Seite des Waldes das Leben in der Kleinstadt mit ihren 10.000 Einwohnern vorerst unmöglich machen würde. Das Volk aber hätten sie belogen.

Das Haus auf der Leninstraße 26 war einst die Synagoge. Doch in den zwanziger Jahren hatten es die Bolschewiken in Beschlag genommen, sie vertrieben die Rabbiner und die Gläubigen. Der kämpferische Atheismus war zur Staatsideologie geworden. Ein paar Steinwürfe weiter lugt hinter wild wachsenden Büschen ein Denkmal Lenins hervor, des Mannes, der damals der Religion den Kampf angesagt hatte.

Zwei überdimensionale Lenin-Statuen und eine Lenin-Büste gibt es noch in Tschernobyl. Einer der Mitarbeiter von Tschernobylinterinform, der staatlichen Agentur, die ausländische Besucher hier betreut, erzählt, dass ein altes Mütterchen, aufgewachsen mit den Versprechungen von der großen Zukunft im Kommunismus, bis zum vorletzten Jahr die Denkmäler regelmäßig gesäubert und mit Blumen geschmückt habe. Dann habe ein Priester in der orthodoxen Kirche gepredigt: "Lenins Werk war des Teufels, er hat seine Hand gegen Gott erhoben!" Da habe die Babuschka erschrocken genickt. Seitdem bringe sie ihre Blumen in die Kirche.

Die Eliaskirche von Tschernobyl ist prachtvoll renoviert. Sie sei hier der "sauberste Ort", erklärt der Führer von Tschernobylinterinform. Sein Geigerzähler zeigt hier den geringsten Wert an. An diesem Dienstag wird der orthodoxe Patriarch hier einen Gedenkgottedienst für die Opfer von 1986 feiern. Auch der Präsident hat sich mit großem Gefolge angesagt. Deshalb wurden nicht nur die Bordsteine vor all den verfallenen und zugewachsenen Häusern geweißt, sondern auch die Zufahrtstraße durch die "Zone" bekam eine neue Asphaltdecke.

Und da man nicht weiß, ob die präsidiale Delegation nicht auf der anderen Straße wieder wegfährt, wurde auch diese erneuert. "Für das Geld, das sie für die eine Tour des Präsidenten ausgeben, könnte man alle Wasserleitungen hier erneuern", sagt ein Arbeiter, der den Kirchgarten säuberlich harken. Immerhin leben hier ja wieder mehr als 300 Menschen und täglich kommen viele Dutzend zur Arbeit in die "Zone".

Tschernobyl liegt in dem weniger belasteten Gebiet im Südosten des Atomkraftwerkes, der Wind wehte damals in die andere Richtung, nach Nordwesten. Ein anderer Mann meint, es sei kein Zufall, dass die Kirche nach dem Propheten Elias benannt sei. Dieser habe schließlich Gott gebeten, Feuer vom Himmel fallen zu lassen, um den Ungläubigen seine Kraft zu zeigen. Nichts anderes bedeute der Brand in dem Atomkraftwerk. So sei es ihnen immer wieder in der Kirche erklärt worden.

Jedermann hier kennt auch die Stelle aus der Geheimen Offenbarung des Johannes, derzufolge ein brennender Stern namens Wermut wie eine Fackel vom Himmel fiel und nicht nur die Erde, sondern sogar das Wasser in Brand setzte. Der wilde Wermut heißt auf Ukrainisch Tschernobyl. Das Feuer des Elias, die Fackel des Johannes - für viele der Gläubigen, die in der Kirche beten, aber auch für die Nachkommen der Juden von Tschernobyl, die alljährlich hierher kommen, war es eine Strafe Gottes für den Abfall vom Glauben.

Die Ungläubigen, das waren für sie die Kommunisten. Sie hatten nicht nur die Synagoge entweiht und unter Stalin die Kirche verwüstet, sondern auch auf der anderen Seite des Waldes eine "gottlose Stadt" gebaut - Pripjat, benannt nach dem Fluss, dessen Wasser auch die Anlagen des Kraftwerks kühlen sollte. In Pripjat, 1970 als "sozialistische Musterstadt" feierlich eingeweiht, gab es keine Gotteshäuser, dafür um so mehr Denkmäler für den gottgleich verehrten Lenin und überall Großporträts der Parteiführer. Einige von ihnen liegen bis heute im Requisitenraum des Theaters, vergilbt, von radioaktivem Staub überzogen. Das einst 50.000 Einwohner zählende Pripjat, das nur aus Wohnblocks besteht, ist heute eine Geisterstadt, niemand wohnt mehr hier.

Aber in das 20 Kilometer entfernte Tschernobyl kommt ein halbes Dutzend Mal im Jahr das Leben zurück. Zu allen kirchlichen Festtagen ist die Eliaskirche überfüllt. Die Priester predigen immer wieder, dass das Gotteshaus allen Stürmen der Zeit standgehalten habe, den Verfolgungen durch die Bolschewiken wie auch der von den Ungläubigen hervorgerufenen Strahlenwolke.

Auch für die jüdischen Pilger, die aus der ganzen Welt den Weg in die "Zone" finden, hat Gott in Tschernobyl ein Zeichen gesetzt. Die heute verfallende Synagoge war einst ein Zentrum der chassidischen Juden. Hier wirkte im 18. Jahrhundert der Rabbiner Menachem Nachum von Tschernobyl, der Begründer einer Dynastie von Schriftgelehrten. Zu seinem Todestag kommen alljährlich mehrere hundert Chassiden mit ihren Schläfenlocken und schwarzen Hüten hierhin, oft direkt vom Flughafen Kiew mit Bussen in die "Zone".

Vor hundert Jahren waren mehr als die Hälfte der Einwohner Tschernobyls orthodoxe Juden, es war ein typisches Shtetl. Viele der verlassenen und zugewachsenen Holzhäuser, die einst in satten Farben leuchteten, zeugen von dieser Zeit, in der auch der Markt und der kleine Hafen florierten. Mit dem deutschen Einmarsch im Sommer 1941 ging das jüdische Tschernobyl endgültig unter. Ein Teil der Einwohner wurde deportiert und in Babij Jar bei Kiew ermordet. Die meisten der Zurückgebliebenen mussten ein Massengrab neben dem orthodoxen Friedhof ausheben und wurden dort erschossen. Ein Davidstern auf dem Friedhof und eine Gedenktafel erinnern an ihr Schicksal.

Neben der Eliaskirche lädt das Museum der orthodoxen Gemeinde Besucher ein. Es will an die versunkene Geschichte des 600 Jahre alten Ortes erinnern. Im Besucherbuch steht der Satz: "Es ist ein tragischer Ort, bitter wie Wermut."

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