Vor einem Jahr um diese Zeit bestand Anlass zu Zuversicht. Die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 waren zugelassen, in Deutschland lief die Impfkampagne an. Vielleicht ließe sich das Coronavirus im Laufe des neuen Jahres ja wirklich zähmen, und Fußballspiele, zum Beispiel, könnten wieder in vollen Stadien stattfinden. Politisch war die Lage zwar unübersichtlich, doch auf den mutmaßlichen Nachfolger für Bundeskanzlerin Angela Merkel würde sich die Union schon noch einigen. Die Wachstumsprognosen für die globale und die deutsche Wirtschaft waren gut. Selbst in den USA schien wieder Vernunft einzukehren: Die Amerikaner hatten bei der Präsidentschaftswahl dem Demokraten Joe Biden deutlich den Vorzug vor Amtsinhaber Donald Trump gegeben, auch wenn der das nicht so ganz einsehen wollte...
Und jetzt, ein Jahr später? Alles ist ein wenig anders gekommen als damals gedacht. Aber besteht nicht doch Anlass, erneut mit einiger Zuversicht auf die kommenden Monate zu schauen? Was wären gute Nachrichten für 2022? Fünf SZ-Autorinnen und -Autoren haben sich Gedanken gemacht, ernst gemeint, aber vielleicht nicht immer ganz ernsthaft.

Ein Traum von einem Virus - wie sich die Pandemie zähmen ließe
Das Jahr 2022 hat begonnen, und ein neues Virus schickt sich an, im Kampf der Virusvarianten den Sieg davonzutragen. Doch der neue Titan unter den Coronaviren, der Milliarden Menschen aufzwingt, den Anweisungen seines genetischen Codes zu folgen, ist ein eher freundlicher Gesell. Sozusagen das Schmusetier unter den Tigern, der Tischböller unter den Silvesterkrachern, die Wasserpistole im Waffenschrank. Als eine Art Corona-Haustier, als treuer Begleiter der Menschheit ist es dazu imstande, die Pandemie zu beenden. Denn wenn es wirklich gut laufen würde im Jahr 2022, dann würde den bisherigen Varianten von Sars-CoV-2 ein Virus Konkurrenz machen, das ansteckender, aber zugleich viel weniger bedrohlich wäre. Omikron scheint ein Schritt der Evolution in diese richtige Richtung zu sein: so infektiös, dass es Delta die Opfer wegschnappt, und zugleich nicht ganz so verheerend.
Leider reicht diese Kombination nach allem, was man weiß, nicht, um als Superhelden-Virus einer coronagebeutelten Menschheit durchzugehen. Auch mit dem offenbar etwas sanfteren Omikron würden zu viele Menschen auf einen Schlag schwer krank, wenn man nichts mehr dagegen unternehmen würde, also alle Masken fallen ließe und auf die sonstigen AHA-Momente verzichten würde. Aber vielleicht kommt bald Pi - und mit ihm die natürliche Lösung für die Quadratur des bisher nicht enden wollenden Corona-Teufelskreises.
Und wenn die Natur das Virus nicht zähmt? Könnten dann womöglich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Jahr 2022 das Gegengift designen, ein harmloses Turbo-Virus, das in Sachen Ansteckungsgeschwindigkeit alle bisherigen Corona-Varianten hinter sich lässt? Es wäre eine großartige Nachricht: Man könnte diesem viralen Superhelden einfach das Feld überlassen, in ein paar Monaten wäre er über die Erde gezogen. Dann wäre am Ende fast jeder infiziert, würde aber nicht krank und wäre trotzdem immun gegen alle anderen, gefährlicheren Corona-Varianten, die sich auf dem Planeten herumtreiben.
Theoretisch möglich wäre das. Man müsste Sars-CoV-2 allerdings noch viel besser verstehen. Dann könnte man seinen Bauplan womöglich so verändern, dass es dem Organismus weniger schadet und zugleich menschliche Zellen noch effektiver entert. Aber es wären heikle Experimente, bei denen Menschenversuche unabdingbar wären. Und am Ende gäbe es vielleicht trotzdem eine unangenehme Überraschung. Dann könnte ein solches Virus kleine Kinder besonders gefährden oder extrem hartnäckiges Long Covid verursachen, die Risiken wären schlichtweg zu groß.
Insofern wäre es schon eine gute Nachricht für 2022, wenn sich die milderen Verläufe durch Omikron auch in Europa bestätigten. Und wenn es den Menschen mit Vorsicht und Impfungen gelänge, die Ansteckungen hinauszuzögern und abzumildern. Dann könnte Corona, auch ohne dass ein Superheld auftritt, am Ende dieses dritten Pandemie-Jahres ein ganz normales Virus geworden sein.

Und wenn sie nicht verloren haben - der Fußballmeister 2022
Am 14. Mai 2022 ist der April immer noch nicht vorbei. Mal Regen, mal Sonne, so wie der Zufall es will. Aber die wechselhafte Witterung macht Donata Hopfen, 44, die geringsten Sorgen. Als Chefin der Deutschen Fußball Liga (DFL) muss sie am Nachmittag den neuen deutschen Meister ehren, doch sie hat keine Ahnung, wo sie diesen Job erledigen soll. Für ihren Vorgänger Christian Seifert war die Aufgabe alle Jahre wieder ein Routinetermin. Meistens wusste er bereits Wochen vorher, wo er am letzten Spieltag hin musste: Wie immer würde er die Meisterschale an Bayern Münchens Kapitän Manuel Neuer überreichen, ein paar Hände schütteln und sich dann ohne Verzug auf den Heimweg machen. Eine Meisterfeier mit Seifert war kein großes Ding, weil die Meister selbst sie längst nicht mehr als großes Ding ansahen: Seit 2013 gab es in der Bundesliga keinen anderen Champion als den FC Bayern, im ganzen Land herrschte das Bewusstsein einer unabänderlichen Weltordnung.
Aber jetzt das: Kaum dass Seifert zur Jahreswende seinen Posten geräumt hatte, ging es in der Liga drunter und drüber. Anfang Januar 2022 hatte der FC Bayern noch wie üblich auf die anderen herabgeschaut. Dann aber gab es zum Rückrundenstart Niederlagen gegen Mönchengladbach (1:3) und in Köln (2:3) sowie zwei 3:3-Spiele - und die Geschichte mit Manuel Neuer: Wegen der vielen Gegentore hatte er sich über Julian Nagelsmanns Taktik beschwert, woraufhin der Trainer Ersatzmann Sven Ulreich spielen ließ. Prompt gewannen die Bayern 1:0 in Bochum, und fortan blieb Ulreich im Tor.
Kenner sagen, am Ende habe diese Entscheidung Nagelsmann den Job gekostet. Der Trainer habe nicht nur Ulreichs Qualitäten über-, sondern auch Neuers Einfluss unterschätzt. Geschwächt durch die schlechten Resultate in der Liga und das peinliche Aus in der Champions League gegen Salzburg, verlor der Trainer den Machtkampf mit dem Nationalkeeper und musste gehen. Danach erholte sich das Team zwar, doch in der Tabelle blieb es extrem eng. Vor der Partie in Wolfsburg am 34. Spieltag liegen die Bayern gleichauf mit Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt, und selbst der SC Freiburg, der in Leverkusen antreten muss, kann noch Meister werden.
Wo nur sollte sie also diese verdammte Schale überreichen, rätselt Donata Hopfen am Morgen des 14. Mai. Dann aber verlässt sie sich doch auf ihr Gespür und fährt nach Leverkusen. Was sie nicht wissen kann: Am Ende eines langen, aufregenden Tages wird sie die Flasche Tannenzäpfle erheben und mit Christian Streich, Freiburgs Coach, Brüderschaft trinken...
Ja, so eine Geschichte würde dem Publikum zweifellos gefallen. Eine Geschichte, in der Deutschlands größter Fußballtitel im packenden Finale vergeben wird und zum Schluss die Guten gewinnen, während die Bayern irdisch scheitern und wie in alten Zeiten das Land als FC Hollywood unterhalten. Doch leider hört sich diese Geschichte nicht nur wie ein Märchen an - sie wird auch eines bleiben.

Berliner Überraschung - womit die neue Koalition alle verblüfft
Der Mai 2022 neigt sich dem Ende zu, als in der Berliner Parlamentsredaktion der SZ die Idee einer Halbjahresbilanz für die Ampel-Regierung entsteht. Stichtag ist der 8. Juni. Der Chef beruft ein Brainstorming ein, es ist nach vielen Monaten die erste Sitzung in Präsenz und nicht per Video. Eine Kollegin schildert ihre Eindrücke nach knapp sechs Monaten Koalition, schüttelt immer wieder ungläubig den Kopf und fragt schließlich in die Runde: "Ist euch das auch aufgefallen?"
Um zu verstehen, was die Redaktion tatsächlich verblüfft, muss man zurückblicken auf die ersten Monate früherer Regierungen. Als das letzte Mal ein Sozialdemokrat Kanzler geworden war, stolperten SPD und Grüne durch die ersten Monate. Ein halbes Jahr war noch nicht vorbei, da trat im Clinch mit Gerhard Schröder schon Oskar Lafontaine zurück, der Finanzminister und auch SPD-Vorsitzender war.

2021:Auf- und Absteiger des Jahres
Es überrascht wohl kaum, dass Obelix zu den Aufsteigern des Jahres gehört und Jörg Meuthen zu den Absteigern. Für beide war der Weg vorgezeichnet. Sensationell ist aber, dass eine junge Whistleblowerin Facebook das Fürchten lehrt.
2005, als Angela Merkel Kanzlerin geworden war, fühlte sich die SPD in der großen Koalition schon nach kurzer Zeit unterdrückt und ausgenutzt. Generalsekretär Hubertus Heil maulte über die Zustände auf dem Regierungsschiff: Merkel mache nur bella figura auf dem Sonnendeck, während die SPD im Maschinenraum schufte.
2009 geriet die sogenannte Wunschkoalition von Union und FDP zum Albtraum. Von Beginn an gab es Streit, vor allem in der Steuerpolitik. Ein Neustart misslang, kurze Zeit später schimpfte ein FDP-Staatssekretär, die CSU sei "als Wildsau aufgetreten", der CSU-Politiker Alexander Dobrindt nannte die FDP eine "Gurkentruppe".
All so was gibt es mit der Ampel-Regierung nicht. SPD, Grüne und FDP arbeiten den Koalitionsvertrag ab. Natürlich klemmt und hakt es hie und da in Detailfragen, aber alles in allem funktioniert die Abstimmung auffallend gut. Die kleineren Koalitionspartner fühlen sich gut behandelt. Nachdem der Spiegel Ende 2021 noch eine Geschichte über die Rivalität zwischen Robert Habeck und Christian Lindner mit der Schlagzeile "Es kann nur einen geben" betitelt hatte, sagt Lindner nun der SZ in einem Interview: "Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass ich in der Politik noch einmal eine menschlich so wertvolle Erfahrung machen würde wie die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Robert Habeck."
Der neue Kanzler führt die Koalition in einer Mischung aus Entschiedenheit und Laisser-faire. Nachdem es anfangs Kritik an seiner ausweichenden Art gegeben hat, bemüht sich Olaf Scholz inzwischen auch in Pressekonferenzen, auf das einzugehen, was die Journalisten wirklich wissen wollen. Statt sich, wie in den ersten Wochen seiner Amtszeit, für einzelne Fragen zu bedanken, dann aber irgendwas zu erzählen, beendet der Kanzler nun seine Ausführungen gerne mit dem freundlichen Zusatz: "Beantwortet das Ihre Frage?"

Der Pakt von Marrakesch - was Finanzminister fürs Klima tun
Es ist der 14. Oktober 2022. An diesem Freitagnachmittag sind im Kongresszentrum von Marrakesch die Finanzminister und Notenbankchefs der 190 Mitglieder von Internationalem Währungsfonds und Weltbank zu ihrem Jahrestreffen zusammengekommen. Dass die Tagung überhaupt real in der marokkanischen Wüstenstadt stattfindet (und nicht nur virtuell), ist schon für sich genommen eine gute Nachricht. Wegen Covid-19 war sie im vergangenen Jahr verschoben worden.
Die eigentliche gute Nachricht aber ist das, was IWF und Weltbank in Marrakesch beschließen wollen: einen globalen Solidarpakt zur Rettung des Weltklimas. Schon vor Beginn hatten sich die einflussreichsten Mitglieder - neben den USA auch die EU-Staaten und Kanada - auf dessen Grundzüge geeinigt. Wie sich China verhalten würde, war bei Konferenzbeginn noch nicht klar. Der Pakt sieht vor, dass es künftig Hauptaufgabe der Weltbank sein wird, Ersparnisse aus den alternden Industriegesellschaften des globalen Nordens in den globalen Süden mit seiner jungen Bevölkerung zu lenken. Dort wird Kapital dringend gebraucht, um eine CO₂-neutrale Energieversorgung aufzubauen, während im Norden Anlagemöglichkeiten fehlen. Gelingt der Plan, wird die Weltbank nicht mehr Entwicklungshilfe im herkömmlichen Sinne leisten, sondern den Kapitaltransfer organisieren, dort wo es kommerzielle Banken bisher nicht können.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) machte deutlich, dass die Bundesregierung das Projekt uneingeschränkt unterstützt. Vor Journalisten sagte er in Marrakesch: "Das ist ein marktwirtschaftlicher Weg in der Klimapolitik. Deutschland wird auch deshalb von dem Solidarpakt profitieren, weil er für Innovationen neue Märkte erschließt."
Der Solidarpakt geht zurück auf eine Idee des Harvard-Professors Larry Summers. Der Ex-Berater von Präsident Barack Obama hatte gefordert, IWF und Weltbank "neu zu erfinden". Summers glaubt, dass es dabei auch um die Sicherheit der reichen Länder geht. "Bedrohungen unserer Sicherheit haben genauso viel zu tun mit unserer Fähigkeit, internationale Zusammenarbeit zu mobilisieren, wie mit unserer Fähigkeit, Aggressoren abzuschrecken", sagte Summers im Dezember 2021 bei einem Vortrag in Princeton, als er seinen Plan erstmals vorstellte.
Nach dem Klimagipfel von Glasgow im November zuvor hatte sich bei vielen Politikern die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht reicht, wenn einige Länder ehrgeizige Klimaziele verkünden, die sie dann nicht erreichen. Klimapolitik muss konkrete, verbindliche ökonomische Entscheidungen nach sich ziehen, und zwar auf der ganzen Welt. Das ist die Logik des Paktes von Marrakesch. Heute kommen mehr als zwei Drittel aller CO₂-Emissionen aus Entwicklungs- und Schwellenländern, einschließlich der Volksrepublik China. Es liegt daher im elementaren Interesse auch der reichen Länder, dass deren Energieprobleme gelöst werden. Das Ziel, die Erwärmung der Erde auf zwei Grad zu begrenzen, geschweige denn auf 1,5 Grad, bleibt sonst unerreichbar.

Nur Mut - wodurch Amerika doch noch zur Besinnung kommen könnte
Mit Zuversicht auf das amerikanische Jahr 2022 zu blicken gehört zu den größeren Herausforderungen. Es sei denn, man blendete die Realität komplett aus. Man könnte sich dann vorstellen, wie ein auf wundersame Weise verjüngter Präsident Joe Biden seine zerstrittene Partei doch noch eint und ein Infrastrukturpaket durch den Kongress bringt. Ein Paket, das vor allem den Ärmeren hilft. Und dass er gleich noch eine Krankenversicherung für alle einführt. Das ist ja aus europäischer Sicht, neben dem Waffenwahn, der größte Irrsinn in diesem so reichen Land: dass knapp 30 Millionen Menschen keine Krankenversicherung haben.
Man könnte sich weiterhin vorstellen, dass der 2020 krachend abgewählte Donald Trump (Biden hatte rund sieben Millionen Stimmen mehr) seine Niederlage in einem Moment der Klarheit anerkennt und sich ins Private zurückzieht. Vielleicht könnte er, wie sein Vorvorgänger George W. Bush, das Malen anfangen.
Natürlich wird nichts von dem passieren. Es wird voraussichtlich alles fürchterlich, und selbst das wäre noch eine freundliche Prognose. Dann wiederum: Kommt es nicht manchmal so anders, als man denkt? Und sind die USA bei allen Problemen nicht auch das Land des unerschütterlichen Optimismus?
Vielleicht sind die Beharrungskräfte bei den traditionellen Republikanern größer, als man auf den ersten Blick sieht. Vielleicht haben Strategen wie ihr schildkrötenhafter Vormann im Senat, Mitch McConnell, im Verborgenen längst eine solide Allianz gegen die Trumpisten geschmiedet, die glauben, die republikanische Partei komplett übernehmen zu können. Vielleicht setzt sich wieder die Erkenntnis durch, dass im Grundsatz beide Parteien, die Demokraten und die Republikaner, für fast alle Amerikanerinnen und Amerikaner wählbar sein müssten, was im Übrigen - grob vereinfacht - auch bedeutet, dass manche linke Ostküsten-Demokraten einsehen, dass die Probleme von Menschen im New Yorker Hipster-Stadtteil Williamsburg nicht die gleichen sind wie die von Farmern in Montana.
Vielleicht ist es nicht unmöglich, dass eine Mehrheit im Land der ewigen Rhetorik der Spaltung, des "Wir" gegen "Die", überdrüssig wird und erkennt, dass die USA als Konstrukt der Diversität nur funktionieren können, wenn man sich auf ein paar grundsätzliche Regeln einigt. Dass das Land mit Anstand und Respekt so viel besser für alle funktioniert, egal welcher Partei sie zuneigen, als mit der amoralischen Obszönität eines Donald Trump und derer, die an seinen Rockschößen hängen.
Es ist leicht, und es ist vermutlich rational, die USA als ein Land zu betrachten, dessen Demokratie über kurz oder lang implodieren wird. Es ist ausgesprochen schwierig, sich die USA als ein Land vorzustellen, das sich besinnt, das zur Ruhe kommt und seinen Kompass wiederfindet. Aber es ist mutig, und ist nicht auch Mut eine Eigenschaft, die dieses ebenso furchterregende wie wunderbare Land immer ausgezeichnet hat?