Süddeutsche Zeitung

Liberalismus:2017 braucht es einen Aufstand der Gemäßigten

Lesezeit: 3 min

Brexit, Trump: Ausgerechnet die USA und Großbritannien haben dieses Jahr die liberale Weltordnung erschüttert. Nun liegt es an allen Demokraten, sie zu verteidigen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Das Kalenderjahr ist eine untaugliche Einheit zur Bemessung von Geschichte. Die großen, von der Menschheit als belastend empfundenen Brüche spielen sich nicht zu einem bestimmten Datum ab und lassen sich nicht auf ein einzelnes Ereignis reduzieren. Ereignisse beschleunigen nur den Übergang von einer Phase der Geschichte zur nächsten.

Das Jahr 2016 war allerdings so reich an diesen Ereignissen, dass ein neues, bedrückendes Gefühl für Vergänglichkeit und Bedrohung entstanden ist. Diese Unsicherheit überwiegt allen Optimismus, könnte aber auch Anlass sein für eine Renaissance des politischen Bewusstseins und der Vernunft, für einen Aufstand der Gemäßigten und Bedächtigen, deren Welt in Bedrängnis geraten ist.

Die größte Zerstörungskraft für die westliche Welt geht von ihr selbst aus

Die taumelnde Welt bescherte die wichtige Erkenntnis, dass es kein Abonnement auf sichere und stabile Zeiten gibt. Geschichte endet nicht, und vor allem enden die Verletzungen nicht, die sich die Menschheit seit jeher selbst zufügt. 2016 war auch deshalb ein besonderes Jahr, weil es plötzlich die westlichen Gesellschaften waren, die diese Verletzungen gespürt haben, obwohl sie sich für gefestigt und immun hielten.

Populismus und der als Nationalismus getarnte Kampf um Identität und Modernität zeigten, dass die größte Zerstörungskraft für diese westliche Welt noch immer von ihr selbst ausgeht. Die angelsächsisch geprägte demokratische und liberale Ordnung, der auf Vernunft und Aufklärung gebaute Austausch von Fakten und Argumenten - all die Konstanten eines als erfolgreich betrachteten Lebens- und Gesellschaftsmodells gerieten ins Wanken, weniger durch äußeren Druck als durch innere Zweifel, Hass und Zerstörungswut.

Donald Trump und Nigel Farage sind die Gesichter, der Brexit und die US-Wahl die Ereignisse, die für das Ende der angelsächsischen Ordnung stehen könnten, jener Pax Americana, die den Westen 70 Jahre lang geprägt hat. Die Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Harry S. Truman waren es, die Amerika vom gefährlichen Isolationismus der Zwanziger- und Dreißigerjahre befreit haben und mit dem UN-System und anderen Institutionen einen regelbasierten Rahmen für die Völkerfamilie schaffen wollten. Der britische Premier Winston Churchill sah in der Vereinigung Europas den einzigen Weg, das alte Balancespiel um Macht zwischen Deutschland, Frankreich und den anderen europäischen Nationen zu beenden.

70 Jahre später hat der britische Premier David Cameron in einer seltenen Torheit den Weg bereitet, das europäische Modell zu zerstören oder wenigstens nachhaltig zu beschädigen. Und Donald Trump wird Amerika zurückführen in einen Isolationismus, der das Land nur scheinbar fernhält von den Problemen der Welt. Es ist eine bittere Ironie, dass die Auflösung dieses Modells ausgerechnet von jenen Staaten ausgeht, die es einst geschaffen haben. Die zweite Ironie liegt darin, dass nicht wenige ihre Hoffnung nun auf Deutschland setzen - auf jenes Land, dessen Zähmung und Befriedung all die Anstrengung der Angelsachsen galt.

Trump, der Brexit und die vielen anderen Symptome der Zeitenwende verunsichern wegen der Gefahren, die sie transportieren. Angst macht aber auch die Methode, mit der die Fackelträger der Illiberalität zur Macht greifen. Dies ist die andere Lehre des Ereignisjahres 2016: Liberale Demokratien bleiben nicht automatisch liberal und demokratisch.

Liberale Demokratien stehen unter permanentem Rechtfertigungszwang - ob sie nun Flüchtlinge aufnehmen oder Terroristen länger inhaftieren wollen. Sie sind dem Feuer der Populisten ausgesetzt, die so lange ihre Schwächen geißeln, bis sie selbst die Hebel der Macht in der Hand halten und die Werteordnung diktieren können. George Orwell kommentierte das am Beispiel von fünf Händlern, die 1945 in London für den Verkauf vermeintlich radikaler Zeitungen verhaftet wurden: "Das Gesetz ist kein Schutz. Regierungen machen Gesetze, aber ob sie angewandt werden, hängt von der generellen Stimmung im Land ab. Wenn eine große Zahl von Menschen an Meinungsfreiheit interessiert ist, dann wird es Meinungsfreiheit geben."

Die Populisten treffen auf Menschen, denen alles zu viel ist

Willkür und Regelverletzung sind keine Privilegien undemokratischer und autoritärer Systeme. Willkür und Regelverletzung sind das Fundament, auf das ein Donald Trump oder eine Brexit-Bewegung ihren Erfolg bauen. Sie kommen in der Form der Lüge, des Tabubruchs oder als Twitter-Bot daher. Die digitale Revolution hat das Immunsystem der Demokratien angegriffen, hat ihr Ortungssystem für richtig und falsch, für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, durcheinandergebracht.

Die Populisten nutzen diese Schwäche, sie erregen die Massen mit Lug und Trug. Sie stoßen dabei auf große Bevölkerungsgruppen, die sich allein gelassen, überfordert, ausgenutzt, schlecht behandelt fühlen; Menschen, denen alles zu viel ist: zu viel Smartphone, zu viel Krise, zu viel Politik, zu viel Welt; Menschen, die es gerne einfacher hätten, überschaubarer, verlässlicher. Sie glauben an all jene, die "Amerika wieder großartig" machen wollen oder aus Brüssel "die Kontrolle zurück" holen werden.

Dieser Populismus steht nicht wirklich für etwas, er richtet sich gegen einen Zustand, er spielt mit Ängsten, Eitelkeiten, Begehrlichkeiten und mit der Lüge. Der Populismus eint die Massen im Widerstand gegen das Etablierte. Donald Trump ist nur Ausdruck dieser Haltung, ein Programm für eine bessere Zeit hat auch er nicht.

Der konservative US-Politikwissenschaftler Robert Kagan meldete sich in diesem Jahr des Wetterleuchtens zweimal mit furiosen Warnungen zu Wort: Der Trumpsche Isolationismus bedeute den Abschied von der Weltmacht USA mit unvorhersehbaren Folgen für den Frieden auf der Erde; und der Trumpsche Populismus in seiner Mischung aus Missachtung und Machismo entfessele den Mob und trage den Faschismus nach Amerika.

Das sind düstere Aussichten, aber auch nur dies: Prophezeiungen, Warnungen. Es liegt an den liberalen Demokraten, sie ernst zu nehmen und abzuwehren. 2017 wird Gelegenheit dazu sein.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2016
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