Wiener Kongress:Als die Freiheit verraten wurde

Wiener Kongress 1814/1815

Gruppenbild der Veränderungsfeinde: Klemens Wenzel von Metternich (stehend) im Kreis der euroäischen Verhandlungsführer auf dem Wiener Kongress.

(Foto: Scherl)

Um Napoleon zu besiegen, brauchten die Fürstenhäuser, was sie am meisten fürchteten: das Volk. Doch als sie sich daran machten, Europa neu zu ordnen, wollten sie von Einheit und Freiheit nichts mehr wissen.

Von Joachim Käppner

"Es sind viele Laster schändlich zu nennen, doch das Schändlichste von allen ist ein knechtischer Sinn. Denn wer die Freiheit verlor, der verlor jede Tugend, und dem zerbrochenen Mut hängen die Schanden sich an. Wer mit hündischen Sinn das Rechte verschweiget, der umschleicht mit dem Unrecht bald auch das Recht."

Solche Worte können Throne zum Wanken bringen. Sie tun das vor allem dann, wenn sie aussprechen und in einem Gedanken bündeln, was sehr viele Menschen fühlen. Und die Fähigkeit, dies zu tun, hatte der Dichter Ernst Moritz Arndt (1769 - 1860) in fast überreichem Maße.

Es ist etwas Maßloses, Irrlichterndes in seinem Wesen, und wer sich heute mit ihm beschäftigt, kann dies nur kritisch tun. Sein Hass auf die Franzosen war eifernd, sein Antisemitismus nicht minder. Aber 1813 war Arndt in deutschen Landen nicht deshalb der Nationaldichter, dessen Büchlein viele Freiwillige in den Tornister steckten, wenn sie auszogen in die Befreiungskriege. Er war, in dieser Stunde, der Barde der Freiheit.

Seine beiden "Katechismus"-Bücher lasen Bürger, Studenten, Soldaten. Unerhörtes stand darin: "Wer aber für den Tyrannen ficht und gegen Gerechtigkeit das mordische Schwert zieht, dessen Name ist verflucht bei seinem Volke und sein Gedächtnis blüht nimmer unter dem Menschen."

Ein epochaler Sieg und eine epochale Niederlage

Vor 200 Jahren, 1815, endeten die Befreiungskriege in Waterloo mit einem epochalen Sieg und einer nicht minder epochalen Niederlage. Besiegt wurde die Fremdherrschaft Napoleons über weite Teile Deutschlands und Europas, auf dem Wiener Kongress beschlossen die europäischen Fürsten die Neuordnung des Kontinents. Dem imperialen Frankreich stellten sie einen zweiten Verlierer an die Seite: Das war die Freiheit.

Auf sie hatten die Männer gehofft, die sich 1813 begeistert zu den Waffen gemeldet hatten, und die Frauen, die "Gold für Eisen gaben", um die neuen Heere zu finanzieren. Eine patriotische Volksbewegung wuchs da heran, und sie wollte mehr als die Schrecken einer oft brutalen und ausbeuterischen Besatzung loswerden. Sie wollte Einheit, und sie wollte Freiheit, zumindest mehr Freiheit als vor Napoleon. Doch als der Krieg 1815 vorüber war, drückte die Herrschaft der Fürstenhäuser schlimmer als im Jahrhundert zuvor. Und wer da noch nach Freiheit rief, wurde als "Demagoge" eingekerkert.

1812 war Napoleons "Grande Armee" in Russland gescheitert, nach einem demütigenden Rückzug durch Schnee und Eis kamen nur Trümmer von ihr an den Grenzen Preußens an. Dieses Königreich war de facto ein Protektorat, französische Truppen standen in Berlin. Der Mythos ihrer Unbesiegbarkeit aber war dahin. Theodor Körner zog mit den Lützowschen Jägern, dem berühmtesten Freiwilligenverband der Befreiungskriege, gegen die Besatzungstruppen und dichtete:

"Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen.

Es ist ein Kreuzzug, 's ist ein heil'ger Krieg.

Recht, Sitte, Tugend, Glauben und Gewissen

Hat der Tyrann aus deiner Brust gerissen;

Errette sie mit deiner Freyheit Sieg!"

Die Herrschenden brauchten Bürger, keine Söldner

Die "Kronen", die Herrschenden, die Königshäuser, allen voran Preußens zaudernder Monarch Friedrich Wilhelm III. waren in einer paradoxen Lage. Sie benötigten nun dringend, was sie am meisten fürchteten: das Volk. Sie brauchten Bürger, nicht Söldner. "Wenn der König sich weigerte, die Mittel zu gebrauchen, die ihm seine Untertanen entsprechend dem allgemeinen Willen der Nation zur Verfügung gestellt haben . . ., halte ich die Revolution für unvermeidlich", glaubte der geheime britische Beauftragte Anfang 1813 in Berlin.

In dem sehr anschaulichen Buch "Preußische Mythen" (Donat Verlag 2012) schreibt der Historiker Gerd Fesser: "Friedrich Wilhelm begriff, in welch gefährlicher Situation er sich befand, und stellte sich an die Spitze der patriotischen Bewegung" - scheinbar. Am 9. Februar 1813 führte Preußen die Allgemeine Wehrpflicht ein, am 16. März erklärte es Paris den Krieg, und der König erließ den berühmten Aufruf "An mein Volk!". Von Freiheit und mehr Rechten ist darin nicht die Rede.

"Der Mensch muß für eine Idee begeistert werden"

Wer Frankreichs Heere schlagen wollte, musste das freilich mit dessen eigener Waffe tun: der bewaffneten Bürgerschaft, der levée en masse. Diese Errungenschaft der Revolution hatte sich bis 1812 den streng gedrillten Armeen aller Feudalmächte als überlegen erwiesen. Frankreichs Soldaten kämpften für eine Sache: ihr Land und die neue Freiheit des Volkes. Das verschaffte ihnen einen gewaltigen Vorteil über die von Adeligen geführten Söldnerheere der Feudalmächte, deren größte Sorge von jeher war, dass sich die Truppe nicht bei erster Gelegenheit absetzte.

Frankreichs Heere kämpften flexibler, eigenständiger, intelligenter. Und weil das so war, hatten Preußens große Reformer wie Stein, Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau eines erkannt: Ein Vaterland braucht ein Volk, das an diesem Lande hängt, das Teil an ihm hat und sich als sein Bürger versteht. "Der Mensch", so August Graf Neithardt von Gneisenau, "muß für eine Idee begeistert werden, damit er etwas Großes leistet."

Weder er noch seine Mitstreiter waren Revolutionäre. Sie hofften, die Regentschaft der Königshäuser und des Adels mit der Masse des Volkes zu versöhnen, zumindest die gebildeten Schichten enger an den Staat zu binden. Bis zu den schauerlichen Niederlagen gegen Napoleon 1806 aber war es Bürgern fast unmöglich, Karriere in der Armee zu machen. Die Offiziersposten befanden sich in der Hand des Adels, Herkunft galt mehr als Können.

"Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte."

Der Militärreformer Scharnhorst begründete mit diesem Argument die allgemeine Wehrpflicht: "Alle Bewohner des Staates sind geborene Verteidiger desselben." Oder, mit dem martialischen Arndt gesprochen: "Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte." Das war aber das Problem. Friedrich Wilhelm und all die kleinen und großen Fürsten bis hin zum Kaiser in Österreich wollten beides, das Eisen und die Knechte.

Nur ein Bündnis der großen Mächte einschließlich Russlands war stark genug, die Militärmacht Napoleons zu bezwingen. Und da es daher weiterhin die Staaten waren, welche den Krieg führten, trugen die Befreiungskriege einen eigentümlichen Doppelcharakter.

Sie waren und wurden immer mehr zu herkömmlichen Feldzügen, aber erstmals schwang in den Heeren aus den deutschen Landen ein patriotischer Geist mit, der, wenn auch vage, mehr Freiheit und nationale Einheit zugleich forderte - zwei Dinge, welche die Fürstenhäuser nicht zu gewähren bereit waren, wollten sie nicht die Grundpfeiler der eigenen Macht erschüttert sehen.

Die Freiheit galt den Fürsten als Feind, als französischer Revolutionsimport

Die Freiheit, zumal die innere, galt ihnen als Feind, als französischer Revolutionsimport. Und mit den Franzosen waren ja nicht nur Drangsal und Ausplünderung gekommen, sondern auch Fortschritte. Das überkommene Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte Napoleon mit einem Federstrich beseitigt, ebenso die drückende Macht der Kirche und manche mittelalterlichen Zustände in Justiz und Gesellschaft. Dem Freiheitsgedanken in Deutschland hat es noch lange geschadet, dass solche Reformen durch die Gewehre der Invasoren erzwungen werden mussten.

Umso leichter stellten die Herrscherhäuser, als Napoleon 1815 endgültig auf eine windzerzauste Atlantikinsel verbannt und in Paris das Königshaus der Bourbonen wieder eingesetzt war, den Status quo ante wieder her. Und mehr noch. Der Wiener Kongress sicherte die Herrschaft der Großmächte, die äußere Ordnung, völkerrechtlich so sehr, dass auch ihre innere Ordnung fortan als sakrosankt galt. Deutschland blieb ein Flickenteppich diverser Herrschaften, lose im Deutschen Bund zusammengefügt, unter dem wachsenden Schatten Preußens.

Die Geschichte einer Tragödie

Die Kriege gegen Napoleon 1813 bis 1815 wurden im Namen der Freiheit geführt, damals aber wohlweislich nicht Freiheitskriege genannt. Die konservative Sicht setzte sich durch, das Ziel des Kampfes sei mit der Befreiung der deutschen Lande von der Fremdherrschaft erreicht - daher der Name "Befreiungskriege".

Sie waren noch nicht zu Ende, da hatte eine reaktionäre Hofschranzenschaft rund um König Friedrich Wilhelm die ungeliebten preußischen Reformer schon ins Abseits gedrängt. Und das Militär, einst Hochburg der Reformer? Es nahm nun Bürger auf und behielt die Wehrpflicht, doch trieb es den Soldaten demokratische Flausen mit Gewalt aus. Es herrschte bald ein erzkonservativer Korpsgeist in der bleiernen Zeit nach 1815. Und wer nun, wie die Studenten, noch Lieder über Einheit und Freiheit sang, wurde zum Fall für die Geheimpolizei. E. T. A. Hoffmann ließ 1822 in der Satire "Meister Floh" seinen Geheimen Hofrat Knarrpanti sagen: "Wenn erst der Verbrecher ermittelt sei, würde sich das begangene Verbrechen von selbst finden."

Es ist die Geschichte einer Tragödie, eines getäuschten Volkes, der verlorenen Freiheit. Die Geschichte der Deutschen ist nicht arm an Freiheitskämpfen, doch gelten die Kämpfer selbst in ihrem Land wenig. In den USA und Frankreich sind die Revolutionäre Nationalhelden, bisweilen ins Mythische und Ideologische entrückt, aber Gründerväter (und gelegentlich auch -mütter) ihrer Nationen.

Stets hat die Freiheit im entscheidenden Augenblick verloren

In Deutschland sind die Namen von Freiheitskämpfern fast unbekannt, ein paar Denkmäler in der Provinz erinnern an sie und hier und da ein Straßenname: Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von Lützow, der Freischarführer von 1813, Friedrich Hecker und Franz Sigel, die badischen Revolutionäre, die sich 1849 nicht beugen wollten; die aufständischen Matrosen und Soldaten, die 1918 ihren dünkelhaften Offizieren die Rangabzeichen von den Schultern rissen und sich weigerten, weiterhin Kanonenfutter eines längst verlorenen Krieges zu sein. Sie alle spielen, im kollektiven Bewusstsein, sogar noch heute eine sehr geringe Rolle.

Nach 1945 haben sich viele kluge und auch einige minder kluge Historiker damit beschäftigt, ob ein "gerader Weg" direkt in das deutsche Verhängnis der Hitler-Jahre geführt habe - und wenn ja, wo der Anfang dieses Wegs zu finden sei. Mit dem Abstand einiger Jahrzehnte zu solchen Kontroversen, welche unweigerlich sogleich die Identität der beiden deutschen Staaten berührten, ist der Gedanke eines geraden Weges der deutschen Geschichte in den Nationalsozialismus verblasst. Zu Recht. Es hat immer Weggabelungen, Entscheidungsmöglichkeiten gegeben, und alles hätte ganz anders und gewiss nicht so apokalyptisch wie 1933 bis 1945 kommen können. Aber stets hat die Freiheit im entscheidenden Augenblick verloren. Doch das heißt nicht, dass diese Niederlagen zwangsläufig oder gar gesetzmäßig gewesen sind.

Was wäre, wenn die Weimarer Republik wehrhafter gewesen, die Revolution von 1918 nicht ganz so gutartig und im Rausch der Illusion gefangen, der große Aufstand des Bürgertums 1848/49 siegreich gewesen wäre? Oder eben: Was, wenn der Schwung des Freiheitsgedankens 1813 die Throne ins Wanken oder wenigstens die Könige zur Einsicht gebracht hätte?

Die Niederlage der Freiheit 1815 ist mit dem Namen von Klemens Wenzel Lothar von Metternich verbunden. Der österreichische Staatsmann war die graue Eminenz des veränderungsfeindlichen Machtsystems der Restauration, das zwar auf lange Zeit den Frieden sicherte, aber jede nationale und liberale Befreiung bekämpfte. Selbst der Gedanke an die deutsche Einheit grenzte in dieser Epoche an Hochverrat, weil sie die bestehende Ordnung gekippt hätte. Ohne diese Ordnung wäre Deutschland vielleicht den Weg in den Westen und in die Moderne gegangen.

Die Einheit des geteilten Landes gelang 1871 von oben

Es wäre ja nicht der Weg jakobinischen Terrors gewesen, wie in Paris nach 1789, nicht der Weg der Guillotinen. Die preußischen Reformer, die Freiwilligen, sogar die patriotischen Studenten von 1813 wollten Gemeinsinn, nicht Gemeinheit.

Aber sie haben nichts davon bekommen. Die Karlsbader Beschlüsse von 1819 erstickten die Ära des Reformwillens, so unerträglich wurde das Joch des Obrigkeitsstaates, dass sich der gesammelte Zorn der Bürger in der Revolution von 1848 entlud, am nächsten großen Scheideweg der deutschen Geschichte. Auch hier verlor die Freiheit gegen die Bajonette der Gegenrevolution.

Die Einheit des geteilten Landes gelang erst von oben, mit dem Kaiserreich von 1871. Einheit und Freiheit aber wurden in Deutschland fortan immer mehr als Gegensätze verstanden - das ist der Unterschied zu den meisten Nationen des Westens.

Der große Münchner Historiker Thomas Nipperdey hat die Tragödie der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 treffend zusammengefasst: "Es ist das Wesen großer geschichtlicher Erscheinungen, dass das, was wir mögen, und das, was wir nicht mögen, ihnen zugleich eigen ist, dass sie sich unserem Verlangen, das Positive auf derselben Seite zu finden: Freiheit und Friede, gerade nicht fügen - das macht ihre Größe und ihr Unglück aus."

Dieser Text erschien im Januar 2013 in der Süddeutschen Zeitung. Zum Ende des Wiener Kongresses vor 200 Jahren veröffentlichen wir ihn in leicht veränderter Fassung an dieser Stelle erneut.

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