20 Jahre Rostock-Lichtenhagen:Spiel mir das Lied vom Tod

Wie kam es vor zwanzig Jahren zu den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen? Und wie reagierte die Politik auf die Gewalttaten? Das alte Asylgrundrecht war angeblich an allem schuld. Sogar an den brennenden Asylbewerberheimen.

Heribert Prantl

Die Historiker Etienne Françoise und Hagen Schulze haben ein beliebtes dreibändiges Werk herausgegeben, das "Deutschlands Erinnerungsorte" heißt. Man findet darin die Paulskirche und den Reichstag, die Wartburg und das Bauhaus, das Bürgerliche Gesetzbuch und den Volkswagen, den Schrebergarten, den Führerbunker und Neuschwanstein. Rostock-Lichtenhagen findet man darin nicht.

20 Jahre Ausschreitungen von Rostock - Lichtenhagen

Gewaltausbruch vor 20 Jahren: Ein Mann steht in der Nacht zum 25. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen vor einem brennenden Auto.

(Foto: dapd)

Rostock-Lichtenhagen ist ein Erinnerungsort besonderer Art, weil er nicht nur für Vergangenheit, sondern auch für Gegenwart steht. Der Ort erinnert an ein anhaltendes Versagen deutscher Politik.

Rostock-Lichtenhagen steht zum einen für die schwersten rassistischen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegszeit. Vor zwanzig Jahren randalierten dort fünf Nächte lang Hunderte Neonazis vor einem Ausländerheim, ohne dass die Polizei eingriff; im Gegenteil, als das Haus angezündet wurde, zog die Polizei ab, unter dem Beifall der begeisterten Zuschauermenge.

Rostock-Lichtenhagen steht daher auch für eine Politik des Wegschauens und Wegduckens, für eine Politik, die Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass nicht ernst nimmt. Rostock-Lichtenhagen war und ist schließlich ein Exempel dafür, wohin es führt, wenn demokratische Parteien das Vokabular und die Themen der Rechtsextremisten übernehmen, um ihnen angeblich so das Wasser abzugraben.

Die Angst vor "Überfremdung" wurde politisch gefördert

Die frühen Neunzigerjahre: Es waren die Jahre der hohen Asylbewerberzahlen, (168.023 waren es im Jahr 1992), es waren die Jahre der hysterischen Debatte über das Asylgrundrecht, das damals noch kurz, stolz und bündig so im Grundgesetz stand: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht".

Seit 1989, seit der deutschen Einheit, waren die politischen Angriffe auf dieses Asylrecht immer massiver geworden. Zugleich nahmen die Gewalttaten zu. Als die Rechtsaußen-Partei "Die Republikaner" 1989 in Berlin mit einer extrem ausländerfeindlichen Kampagne und der Titelmelodie des Westerns "Spiel mir das Lied vom Tod" im Wahlspot acht Prozent der Wählerstimmen errungen hatte, wurde das Wort "Asylmissbrauch" zum beliebtesten Wort deutscher Politiker.

Die Angst vor der "Überfremdung", die Angst vor den "Flüchtlingsmassen" wurde von da an politisch so gefördert, wie früher die Angst vor dem Kommunismus gefördert worden war.

Ausländer wurden zum Angstgegenstand. Die Politik glaubte, diese Affekte steuern zu können, indem sie das Asylgrundrecht zum Symbol für die angebliche Überfremdung machte - und die öffentliche Zerschlagung dieses Symbols ankündigte. Die Gewalttäter aber ließen sich davon nicht bremsen und erschlugen die Schutzbefohlenen des Grundrechts.

Im Oktober 1990 attackierten jugendliche Randalierer Wohnheime von Vietnamesen in Schwedt. Im November 1990 griff ein rechtsradikaler Mob in Eberswalde Afrikaner an, der Angolaner Amadeu Antonio wurde derart malträtiert, dass er elf Tage später starb. Am Ostersonntag 1991 stießen Skinheads in Dresden den Mosambikaner Jorge Gomondai aus der Straßenbahn, er erlag seinen Verletzungen. In Wittenberge warfen Jugendliche zwei Namibier aus dem vierten Stock ihrer Unterkunft. In Friedrichshafen wurde ein Angolaner erstochen. Beim Brandanschlag auf seine Asylbewerberunterkunft kam ein Ghanaer in Saarlouis ums Leben. In Hoyerswerda belagerten rechtsradikale Jugendliche die Wohnungen von Asylbewerbern und Gastarbeitern; die Ausländer wurden unter Polizeischutz aus der Stadt gebracht. Ausschreitungen gegen Asylbewerberheime in Eisenhüttenstadt und Elsterwerda. Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Hünxe. Deutsche Flüchtlingshelfer brachten 70 Flüchtlinge zum Schutz in eine Kirche bei Hamburg; die Staatsanwaltschaft ermittelte daraufhin wegen des Verdachts auf "politisches Kidnapping" gegen die Flüchtlingshelfer.

Fassungslose Reporter, johlende Menge

Nach der Jagd auf Ausländer in Hoyerswerda standen die Reporter des ARD-Brennpunkts in einer johlenden Menge auf dem Marktplatz der sächsischen Stadt. Sie haben fassungslos gefragt und bekamen Antworten wie diese: Der Terror gegen Ausländer müsse sein, "bis alle verjagt sind". Man hätte meinen können, der Schock würde den Politikern die Stimme verschlagen. Man hätte meinen können, die brennenden Asylbewerberheime würde sie zur Zurückhaltung mahnen. Man hätte hoffen können, das Thema Asyl würde jetzt zurückhaltender behandelt. Aber so war es nicht.

Ausländerfeindliche Krawallen in Rostock-Lichtenhagen Pistole

Ein von Wasserwerfern durchnässter Randalierer gibt in der Nacht zum 26.08.1992 wahllos Schüsse mit seiner Gaspistole ab.

(Foto: dpa)

Der damalige bayerische Innenminister Edmund Stoiber forderte im August 1991, aus dem Asylgrundrecht "eine Art Gnadenrecht" zu machen, weil ansonsten "rechtsradikale Organisationen erheblichen Aufwind bekommen". Aus dem Asylartikel 16 müsse ein "abstraktes" Grundrecht werden, auf das sich ein Flüchtling "nicht mehr ohne Rücksicht auf andere Interessen berufen" könne. Die Bevölkerung müsse vor einer "totalen Überforderung" durch Flüchtlinge geschützt werden. In einer rigorosen Flüchtlings- und Abschiebungspolitik sah er einen Beitrag zur Bekämpfung der Rechtsradikalen. Das war zunächst die Meinung der CSU, dann der CDU, dann von Oskar Lafontaine, dann auch der Mehrheit von SPD und FDP.

Wer das Grundrecht erhalten wollte, wurde beschimpft. Wer Flüchtlinge Schmarotzer nannte, konnte mit Applaus rechnen. Die Politik tat zunehmend so, als sei das Asylgrundrecht ein Privileg für sogenannte "Asylschwindler" und ein gefundenes Fressen für alle Armen dieser Welt. Man machte diesen Artikel zum Sündenbock. Artikel 16 und die Flüchtlinge waren an allem schuld, sogar daran, dass die Asylbewerberheime brannten.

Flüchtlinge wurden von der Politik nicht als Opfer, sondern als Störer betrachtet

Der Berliner CDU-Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky sprach in einem Interview von Ausländern, die "bettelnd, betrügend, ja messerstechend durch die Straßen ziehen, festgenommen werden und nur, weil sie das Wort 'Asyl' rufen, dem Steuerzahler in einem siebenjährigen Verfahren auf der Tasche liegen".

CDU-Generalsekretär Volke Rühe verschickte Muster-Presseerklärungen an alle CDU-Kreisverbände, forderte dazu auf, die Asylpolitik in den Städten, Gemeinden und Kreisen zum Thema zu machen. Das Ergebnis konnte man in den Lokalteilen der Zeitungen nachlesen. Eine titelte: "Wie viele Asylbewerber verträgt eine Kläranlage?" Allüberall gab es Artikelserien à la: "Zauberwort Asyl / aus allen Himmelsrichtungen strömen Ausländer nach Deutschland." Siebter und letzter Teil einer solchen Serie in einem bayerischen Blatt, im August 1991: "Rascher Griff in fremde Taschen."

Mit einer Aufkleberaktion forderten die deutschen Zeitungsverleger im Februar 1993 ihre Leserinnen und Leser auf, sichtbar zum Ausdruck zu bringen, dass sie "gegen Ausländerhass und Rassismus . . ." - ein Leser ergänzte, per Rücksendung des Aufklebers an die Redaktion, " . . . und ein deutsches Arschloch" sind. "Wir haben nichts gegen Ausländer. Aber dürfen wir als Deutsche kein Selbstbewusstsein haben", stand in einer anderen Zuschrift, die auf die Rückseite eines solchen Aufklebers gekritzelt war. Oder: "Da kommen ein paar Scheißtürken ums Leben, da wird ein Zirkus aufgeführt. Und in den türkischen Gefängnissen wird gefoltert".

Die überfallenen Flüchtlinge wurden von der Politik nicht als Opfer, sondern als Störer betrachtet. Wie mit Störern umzugehen ist, kann man in den Polizeiaufgabengesetzen nachlesen: Es muss ein Platzverweis erteilt werden. Der Platz, um den es dann ging, war die Bundesrepublik Deutschland. Immer mehr Politiker taten so, als seien die Ausschreitungen, jedenfalls in ihrer ersten Phase bis 1992/93, die Folge eines übergesetzlichen Notstands: In Rostock-Lichtenhagen sei, sozusagen, so lautete das Fazit vieler Erklärungen, eine Störung durch Ausländer von den Behörden nicht rechtzeitig beseitigt worden.

Aus dieser Sicht waren die Ausschreitungen eine Art Notwehrexzess; nicht zu rechtfertigen, aber doch irgendwie zu entschuldigen. Kommunalpolitiker entschuldigten sich bei den Bewohnern von Rostock-Lichtenhagen für die Unbill und die öffentliche Kritik, die sie hätten erleiden müssen.

Ausschreitungen als Notwehrexzess

In einer Bundestagsrede vom November 1992 stellte Bundeskanzler Helmut Kohl die Verbrechen an Ausländern in eine Reihe mit alltäglichem Raub und Diebstahl, er passte die Gewalttaten der Neonazis ein in den allgemeinen kriminellen Trend. Die Morde, die Brandstiftungen - sie waren für Kohl ein Zeichen der allgemeinen Zunahme von Gewalt. Damit nahm er dem rechtsextremen Terror seine besondere Dimension der Gefährlichkeit.

20 Jahre Lichtenhagen Sonnenblumenhaus Rostock Pogrom

Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen im August 2012.

(Foto: dpa)

Es wurde noch schlimmer. In Mölln fielen die Türkinnen Bahide und Yeliz Arslan und Ayse Yilmaz einem Brandanschlag zum Opfer; es folgte eine Welle von Brandanschlägen in ganz Deutschland. Am 6. Dezember protestierte eine Demonstration in München, Lichterkette genannt, gegen die Ausschreitungen. Der damalige SZ-Redakteur Giovanni di Lorenzo war einer der Organisatoren dieser ersten Lichterkette, die in vielen Städten wiederholt wurde. Was man mit solchen Veranstaltern und Journalisten machen muss, wusste in einer Leserzuschrift Doktor G. aus Leipzig: "Pickel und Schaufel in die Hand drücken, zur wahrhaftigen Arbeit."

Am 26. Mai 1993, neun Monate nach Rostock, wurde dann zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Grundrecht beseitigt: Das alte Asylgrundrecht wurde durch eine lange, komplizierte neue Vorschrift ersetzt - mit den Stimmen der CDU/CSU, mit den Stimmen der FDP und einer Stimmenmehrheit der SPD. Die Änderung wurde geschrieben im Schein der brennenden Häuser von Rostock und Mölln. Drei Tage nach der Grundgesetzänderung zündeten dann in Solingen junge Brandstifter das Wohnhaus der türkischen Familie Genc an. Zwei Frauen und drei Mädchen, Saime, Hülya und Hatice Genc sowie Gülüstan Öztürk und Gürsün Ince kamen ums Leben.

Nach Gewalttaten ohne Gegenwehr radikalisierten sich braune Kameradschaften

Man müsse alles vermeiden, was "Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen leitet". Mit diesen Argument stellte sich der damalige Außenminister und FDP-Vorsitzende Klaus Kinkel nach den Brandmorden von Solingen gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Während Migranten in Deutschland vor Angst zitterten, kümmerten sich Politiker um die Empfindlichkeiten des rechten Spektrums. Eine "Offensive des Rechtsstaats", wie sie oft angekündigt wurde, war das nicht; ein "Aufstand der Anständigen", wie er dann später von der Regierung Gerhard Schröder vergeblich propagiert wurde, war das auch nicht. Das geltende Asylrecht aus dem Jahr 1993 trägt ein Brandzeichen.

Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) sagte 1994 im SZ-Interview zum neuen Asylrecht: "Jetzt kommen nicht mehr 30.000, sondern 10.000 Flüchtlinge. Das ist immerhin etwas. Dieses Ergebnis bestätigt die Richtigkeit unserer Politik. Sie wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung - die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat." Er sagte tatsächlich "Hitzegrade"!

Nach Rostock, nach Mölln, nach Solingen, nach vielen Gewalttaten ohne staatliche und gesellschaftliche Gegenwehr begannen braune Kameradschaften, sich zu radikalisieren. Eine von ihnen ist der Nationalsozialistische Untergrund NSU, die Dreierbande, die zehn Menschen ermordet hat.

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