20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen:Wenn die Politik in Deckung geht

Ein bisschen Aufregung, ein paar Personalspiele in der Politik, das war's. Die Morde der NSU haben den Rassismus in Deutschland nicht zum Thema gemacht. Dabei wäre es jetzt, 20 Jahre nach den Angriffen auf Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen, höchste Zeit. Es kann und darf nicht sein, dass einfach alles so weitergeht, wie es dort begonnen hat.

Heribert Prantl

Die Aufdeckung der zehn Neonazi-Morde ist neun Monate her. Erstaunlich schnell sind Politik und Sicherheitsbehörden wieder zum Alltag übergegangen. Das Entsetzen über die Verbrechen der NSU hat sich gelegt. Die Aufregung ist abgeflaut, der Ruf nach Konsequenzen nur noch leise. Der Bundesinnenminister treibt ein paar Personalspiele; das war es dann.

Manchmal gibt es makabre Nachrichten aus den Untersuchungsausschüssen über das unsägliche Versagen der Sicherheitsbehörden; deren Vertreter reden das schön. Manchmal gibt es kleine öffentliche Aufwallungen, wenn bekannt wird, dass einschlägige Akten vom Verfassungsschutz vernichtet wurden. Und manchmal erinnert man sich dann an die Erregung, die das ganze Gemeinwesen zurzeit der RAF-Morde erfasste, und man wundert sich über die allgemeine Gelassenheit von heute.

Der alltägliche gewalttätige Rassismus in Deutschland ist kein großes Thema geworden. Die Bürger, die sich Neonazis entgegenstellen, erhalten nach wie vor wenig Hilfe. Wenn Neonazis couragierten Leuten zur Einschüchterung das Auto demolieren, wird das von der Polizei wie eine ganz normale Sachbeschädigung behandelt. Die Morde der NSU haben keine neue Sensibilität der Behörden ausgelöst. Es gibt keine Anweisungen, gegen braune Gewalt mit aller Energie vorzugehen. Es gibt keine neuen Prioritäten in der Politik der inneren Sicherheit.

Es gibt keine Indizien für neue Verve, neue Tatkraft, neue Courage im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Man tut so, als seien die NSU-Morde das eine - und die alltäglichen Gewalttätigkeiten gegen Ausländer etwas ganz anderes. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die beiden Rechtsterroristen sind tot, sie haben sich umgebracht, Beate Zschäpe, die Dritte im braunen Bunde, steht vor der Anklage. Offenbar genügt das. Aber es genügt nicht. Es kann und darf nicht sein, dass einfach alles so weitergeht, wie es vor zwanzig Jahren begonnen hat.

Vor zwanzig Jahren hat man eine frevlerische staatliche Indolenz erstmals beobachten können. Vor zwanzig Jahren wurde die Drohkulisse aufgestellt, die dazu geführt hat, dass Ostdeutschland bis heute weitgehend ausländerfrei ist. Seit zwanzig Jahren, seit den Tagen und Nächten der ausländerfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, wissen Ausländer, dass es besser ist, wenn sie nicht im deutschen Osten leben.

Die Drohkulisse steht bis heute: In Ostdeutschland gibt es nur ein Prozent sichtbare, also nicht weiße Minoritäten. Ostdeutschland, Berlin ausgenommen, ist weitgehend ausländerfrei. Der größte Erfolg der Neonazis in Deutschland ist nicht ihre Präsenz in Landesparlamenten, sondern dieses Faktum: Unter den Migranten gilt Ostdeutschland als No-go-Area. Staat und Politik haben es in zwei Jahrzehnten nicht geschafft, das Klima zu wenden.

Ein Wunder, dass es keine Toten gab

Vor zwanzig Jahren brannten die Sonnenblumen: Einige hundert rechtsextreme Gewalttäter belagerten tagelang das Sonnenblumenhaus, einen Plattenbau an der Mecklenburger Allee in Rostock-Lichtenhagen. Es war dies auch die Folge einer jahrelangen politischen Agitation gegen Flüchtlinge und das Asylrecht. Der Mob fühlte sich als Exekutor dieser Politik, er jagte die Asylbewerber und die ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter. Neonazis stürmten Balkone, warfen Molotowcocktails, setzten das Haus in Brand.

20 Jahre Lichtenhagen

Polizisten nehmen bei den rassistischen Krawallen in Rostock-Lichtenhagen am 26. August 1992 einen Randalierer fest.

(Foto: dpa)

Und die Polizei? Sie zog ab, zurück blieben der grölende Mob und Tausende applaudierende Nachbarn. Die Staatsmacht lieferte mehr als 120 Männer, Frauen, Kinder an mordlustige Neonazis aus. Es war ein Wunder, dass es keine Toten gab; die verzweifelten Menschen konnten sich mit knappster Not aufs Dach retten.

Von Rostock an hörten sich die Nachrichten aus Deutschland an wie Kriegsberichte: Die Front war überall. Täglich wurden neue Angriffe auf Ausländer gemeldet. In dieser Zeit wurde das Mördertrio der NSU erwachsen. Die braune Gewalt war in der Offensive, der Rechtsstaat in der Defensive, die Politik in der Deckung.

Nach früheren Übergriffen waren die Politiker noch in die Asylbewerberheime geeilt, um dort ihr Mitgefühl zu versichern. Nach Rostock eilten die Politiker der Union, der SPD und der FDP in die Beratungszimmer, um das Asylgrundrecht zu ändern. Die Verbrecher von Rostock hatten quasi die Türen zu den Sitzungssälen der Parlamente aufgestoßen. Diese Schande liegt als düsterer Schatten auf dem neuen Asylrecht. Die Täter wurden zu Opfern erklärt, Opfer zu Tätern: Wären die doch nicht nach Deutschland gekommen! Selber schuld!

Sicherheitsbehörden und Politik haben so viel falsch gemacht in den vergangenen zwanzig Jahren. Es ist Zeit für tätige Bewährung.

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