20 Jahre nach dem Mauerfall:"Ein Bürgerkrieg blieb Deutschland erspart"

Der britische Historiker und Autor Frederick Taylor über sein neues Buch "Die Mauer" und die vermeintlich positive Wirkung des Bauwerks.

Franziska von Kempis

sueddeutsche.de: Herr Taylor, wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass es die Mauer gibt?

20 Jahre nach dem Mauerfall: Taylor: "Die Mauer stand natürlich für ein unmenschliches System"

Taylor: "Die Mauer stand natürlich für ein unmenschliches System"

(Foto: Foto: AP)

Frederick Taylor: Als ich 13 war, hatte mein Vater einen Herzanfall. Das war an einem Wochenende im August 1961. Während er im Schlafzimmer von einem Arzt versorgt wurde, wurde für uns Kinder der Fernseher angeschaltet - zur Ablenkung. Das war meine erste Begegnung mit der Mauer: Fernsehbilder in schwarz-weiß, ein Stacheldrahtzaun durch eine Stadt, Grenzsoldaten mit Gewehren. Die Bilder sind in meiner Erinnerung zwar etwas verschwommen, doch ich sehe sie noch genau. Mein Vater starb einen Tag später, am 14. August 1961. Am Tag vorher hatten sie die erste vorläufige Form der Berliner Mauer aufgezogen.

sueddeutsche.de: Und ihr erster physischer Kontakt?

Taylor: Das war vier Jahre später. Ich reiste ich mit der Schule nach Berlin. Bei meinem ersten Besuch in Ostberlin war ich von den Beamten an der Grenze schockiert. Da herrschte so eine bedrückenden Stimmung, völlig einschüchternd. Ein prägendes Erlebnis.

sueddeutsche.de: Welchen Einfluss hatte die Mauer Ihrer Meinung nach auf den Ost-West-Konflikt?

Taylor: Die Mauer stand natürlich für ein unmenschliches System. Aber gleichzeitig war sie auch für eine gewissen Stabilisierung verantwortlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auf der Welt drei geteilte Länder: Korea, Vietnam und Deutschland. Von diesen drei Ländern verfielen zwei in brutale, blutige Bürgerkriege mit Millionen von Toten. Das ist in Deutschland nicht geschehen.

sueddeutsche.de: Und was ist mit den Toten an der Mauer, dem Kalten Krieg?

Taylor: Es gab zwar einen Kalten Krieg, aber keinen aktiven mit vielen Toten. Dass 150 bis 250 Menschen an der Mauer ihr Leben gelassen haben, ist furchtbar. Man darf natürlich auch die Auswirkungen des psychologischen Mauer-Drucks auf die Menschen nicht vergessen. Das wirkt bis heute noch nach. Aber ein Bürgerkrieg blieb Deutschland erspart.

sueddeutsche.de: Glauben Sie ernsthaft, es hätte ohne Mauer einen Bürgerkrieg gegeben?

Taylor: Wer weiß, wie die Großmächte reagiert hätten, wäre Deutschland nicht geteilt worden. Mit der Mauer waren die Überlegungen der West-Mächte, wie man sich Ost-Deutschland gegenüber verhalten sollte, beendet. Das geht auch aus den Unterlagen der CIA hervor: Mit der Mauer hat man damals anerkannt, dass man in dieser Gegend nichts mehr machen konnte.

sueddeutsche.de: Welche Folgen hatte das für die internationalen Beziehungen zwischen Ost und West?

Taylor: Für den internationalen Frieden im Sinne der Gefahr einer militärischen Konfrontation war die Mauer im Großen und Ganzen gut. Das ist das Paradox der Geschichte. Wenige historische Ereignisse sind unbedingt gut oder schlecht. Alles ist oft eher eine Mischung aus beidem. Wie diese Mixtur im Endeffekt wirkt, kann man eben oft erst nach Jahren sehen.

sueddeutsche.de: Sie haben Geschichte und Germanistik studiert. Noch als Student waren sie zweimal in der DDR. Wie waren damals Ihre Eindrücke?

Taylor: Als ich mal im Polizeipräsidium am Alexanderplatz stand, um mein Visum abzuholen, war da ein junger Südamerikaner. Er wollte mit seinem Fahrrad nach Prag fahren. Aber das war anscheinend zu verdächtig - man hielt ihn für einen Spion oder so etwas ähnliches. Das Fahrrad durfte nicht mit. Das muss man sich einmal vorstellen: Es war nicht erlaubt, das eigene Fahrrad in die DDR mitzunehmen - zur Durchreise! Der arme Kerl hat einfach nicht verstanden, warum sie ihm das nicht erlauben wollten. Mir erschien das auch völlig unbegreiflich.

sueddeutsche.de: Wie haben sie die Menschen in der DDR damals erlebt?

Taylor: Mir ist ein großer Unterschied zwischen den Ostberlinern und den Menschen in der ostdeutschen Provinz aufgefallen. Ich habe die Ostberliner als zurückhaltend erlebt. In der ostdeutschen Provinz waren die Menschen sehr viel offener und systemkritischer.

sueddeutsche.de: Haben Sie ein Beispiel?

Taylor: Bei einem Besuch musste ich nach Merseburg. In der Nähe befanden sich die Leuna-Werke und abends unterhielt ich mich in der Kneipe oft mit einigen Arbeitern aus den Werken. Die Arbeiter waren ganz anders, offener und kritischer. Ihnen ging es um Luftverschmutzung, die schlechten Verhältnisse in den Fabriken und die gnadenlose Erfüllung der erwarteten Quoten. Solche Dinge passierten im Westen natürlich auch, aber dort gab es die Zeitungen und Gewerkschaften. In einer Gesellschaft ohne Pluralismus fehlte dieses öffentliche Gegengewicht. Wer sich allerdings mal in der Kneipe mit dem normalen Arbeiter unterhielt, erfuhr etwas über die wahren Zustände.

sueddeutsche.de: Wo waren Sie als die Mauer fiel?

Taylor: In London - mein Hotel hatte noch nicht einmal einen Fernseher. Deshalb habe ich die Neuigkeit erst Stunden später erfahren. Das war wirklich ärgerlich.

sueddeutsche.de: Sie sind in den Jahren danach immer wieder im wiedervereinigten Deutschland gewesen. Haben Sie da eine "Mauer in den Köpfen" erlebt?

Taylor: Die Deutschen haben eine große Tendenz zum Provinzialismus. Die Sachsen fühlen sich natürlich als Deutsche, aber eben auch als Sachsen. Das ist in anderen Bundesländern genauso. In England gibt es das auch. Die Leute aus Cornwall definieren sich selbstverständlich als Engländer, aber sie fühlen sich eben auch kornisch. Die Berliner Mauer hat diesen Provinzialismus nur verstärkt.

sueddeutsche.de: Ist das Phänomen der Ostalgie als eine Art Schutzmauer zu verstehen?

Taylor: Die Ostalgie wirkt auf mich eher wie eine Form der Amnesie. Als ich in den 70er Jahren in der DDR mit den Leuten gesprochen habe, war davon nichts zu spüren. Die meisten Menschen wollten einfach nur das System weg haben.

"Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989" von Frederick Taylor erscheint beim Siedler-Verlag.

Frederick Taylor ist 1947 geboren und lebt mit seiner Frau Alice Kavounas in Cornwall, England.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: