20 Jahre nach dem Bosnienkrieg:Wir Kinder des Krieges

Sarajewo, Bosnien-Herzegowina

Ein Junge spielt im April 1996 in Sarajevo auf einem zerstörten Panzer.

(Foto: Odd Andersen/AFP)
  • Adnan Rahimić war gerade einmal zehn Jahre alt, als in seiner Heimat Bosnien-Herzegowina der Krieg ausbrach.
  • Ein Jahr lang verbrachte er getrennt von seiner Familie. In einer spektakulären Rettungsaktion brachten ihn Soldaten zurück zu seinen Eltern.
  • Der Krieg veränderte seine Heimatstadt grundlegend: Mostar war plötzlich zweigeteilt - ähnlich wie Berlin bis 1989.
  • Die Erfahrungen des Kriegs prägen ihn noch immer. Er möchte seinen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschehnisse leisten.

Von Adnan Rahimić , Sarajevo

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung.

Als in Bosnien-Herzegowina Krieg ausbrach, begriff ich den Ernst der Lage zunächst nicht. Ich war noch ein Kind, gerade einmal zehn Jahre alt. In meiner Heimatstadt Mostar, gut 130 Kilometer südwestlich von Sarajevo, teilten wir uns Keller und Bunker. Wir empfanden es als Abenteuer - Freizeit mit unseren Freunden, keine Schule, keine Hausaufgaben, wir spielten und schliefen alle im gleichen Raum und im selben Bett. Wir begriffen damals nicht, dass wir uns versteckt hielten. Wir drängten unsere Eltern sogar, noch öfter zum Bunker zu gehen, so dass wir alle zusammen sein konnten.

Anfangs, als die Bombardements noch unregelmäßig waren, trafen sich alle Nachbarn aus dem Gebäude abends im Bunker zur "obligatorischen Kaffeestunde" und sprachen über die Lage und ihre Sorgen. Ich wurde Zeuge von Kämpfen, von Granateneinschlägen und ich hörte, wie Menschen starben. "Es war nichts, spiel weiter", sagten meine Eltern dann. Da war die Welt für mich wieder in Ordnung, ich machte mir keine Sorgen.

Im Sommer 1992 begann ich langsam zu verstehen. Meine Eltern setzten meine Schwester und mich in einen Bus, der Mostar verlies. Mir war klar, dass es sich nicht um eine der regelmäßigen Sommerfreizeiten handelte, an denen wir zuvor teilgenommen hatten. Wir fuhren nach Kroatien und sollten dort bleiben, bis sich die Lage beruhigt hatte und wir zurückkehren konnten. Einige Monate vergingen, die Kämpfe ließen nach. Als wir nach Hause zurückkehrten, waren die Spuren des Krieges allgegenwärtig: Brücken waren zerstört, Behelfsbrücken errichtet worden, viele Gebäude waren in Trümmern, Straßen ernsthaft beschädigt, viele Parks und Gärten hatten sich in Friedhöfe verwandelt.

In Mostar hofften die Menschen, dass das Schlimmste vorbei sei. So auch meine Eltern, die mir eines Tages erlaubten, bei einem Freund am anderen Ende der Stadt zu übernachten. Doch ihre Hoffnung stellte sich als falsch heraus.

Autoreninfo

Adnan Rahimić, 33, stammt aus Mostar in Bosnien-Herzegowina. Nach seinem Studium in Großbritannien arbeitete er im Bereich Hochschulausbildung des Kantons Sarajevo. Heute ist er International Relations Officer an der Universität von Sarajevo.

Die Trennung von der Familie

Anstelle eines friedlichen Sonnenaufgangs gab es Schießereien, einschlagende Granaten; Menschen, die schrien, weinten, sich beschimpften. Ich war alleine; ich wusste nicht, wohin ich gehen oder was ich tun sollte.

Tatsächlich befanden wir uns erst in der Anfangsphase des Krieges. Er sollte noch weitere drei Jahre dauern. Im Wesentlichen war es ein Konflikt zwischen muslimischen Bosniaken, orthodoxen Serben und katholischen Kroaten.

Einen Monat lang fühlte ich mich wie eine Puppe, die von Familie zu Familie gereicht wurde, um in Sicherheit zu sein. Währenddessen durchsuchte die Armee Wohnungen und Häuser nach Menschen, die nicht der "richtigen Ethnie" angehörten und vertrieben sie.

Der Bosnienkrieg

Mit dem Zerfall des Ostblocks begann auch der Zerfall Jugoslawiens, in dem nach offizieller Lesart alle Ethnien brüderlich zusammenlebten: Im März 1992 stimmten die Bosnier mit großer Mehrheit für ihre Loslösung, die serbische Minderheit boykottierte das Referendum. Die Spannungen zwischen den Volksgruppen nahmen zu, bis sie am 5. und 6. April eskalierten: Bei einer Friedensdemonstration schossen serbische Heckenschützen in die Menge, es waren die ersten Kriegstoten. Am 6. April begann die Belagerung Sarajevos, aber auch das gesamte Land stürzte in einen blutigen Krieg, etwa 100 000 Menschen starben, mehr als zwei Millionen Menschen mussten fliehen. Im Juli 1995 eroberten serbische Truppen die Enklave und UN-Schutzzone Srebrenica. Bei einem Massaker wurden etwa 8000 Menschen ermordet. Hauptverantwortlich waren der Serbenführer Radovan Karadžić und sein bosnisch-serbischer General Ratko Mladić. Das Abkommen von Dayton vom 21. November 1995 teilte Bosnien-Herzegowina in zwei Entitäten auf: die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina.

Alltag unter psychischer Folter

Schließlich kam ich zu meinen Großeltern nach Ljubuški, einer kleinen Stadt 30 Kilometer von Mostar entfernt. Dort blieb ich ein Jahr lang. Meine Großeltern waren die einzige Familie und Unterstützung, die ich in dieser Zeit hatte.

Ich war ein junger Muslim. In meiner Umgebung galt das als Verbrechen. Ich danke Gott, dass ich damals noch ein Kind war. Immer noch war mir die Ernsthaftigkeit der Lage nicht wirklich bewusst. Ich begriff nicht, was die Leute meinten, wenn sie von einer "weißen Binde" am Arm sprachen, mit der Andersartige gekennzeichnet waren. Ich verstand auch nicht, was es bedeutete, zu einer "anderen Religion zu konvertieren". Auch wenn in Ljubuški keine Bomben oder Schüsse fielen, war der Alltag belastet. Permanente Ängste und Bedrohungen glichen psychischer Folter.

Schließlich erreichten mich durch das Rote Kreuz die ersten Briefe. Ich konnte wieder mit meiner Familie in Mostar Kontakt aufnehmen. Endlich! Sie waren von den Mühen des Krieges erschöpft, hungrig, krank und all der Ereignisse überdrüssig. Aber sie waren am Leben!

Es war ein komisches Gefühl, von meiner Familie zu hören - geografisch gesehen waren sie zwar nah, doch gefühlt waren sie für mich sehr weit entfernt. Je mehr ich über ihr Leben und ihr Leiden erfuhr, umso stärker wurde meine Sehnsucht. Ich wollte bei ihnen sein, ich wollte, dass wir das Land verlassen. Meine Großeltern taten alles, damit es mir gutging, aber ich vermisste die Umarmung meiner Mutter, die Erzählungen meines Vaters - ich vermisste und idealisierte sogar die kleinen Auseinandersetzungen mit meiner Schwester, die in Zeiten des Krieges so absurd erschienen. In Briefen beschrieben sie die Ereignisse in Mostar, wie sie versuchten, an Lebensmittel zu kommen, wie schwierig es war, Wasser aus den Zisternen nach Hause zu bringen und zu überleben beziehungsweise am Leben zu bleiben.

Hilfe von verfeindeten Soldaten

1994, an meinem zwölften Geburtstag, kam ein Mann vom Roten Kreuz zu Besuch und brachte mir Nachrichten von meiner Familie sowie Geschenke. Er lebte in Mostar und traf meine Eltern täglich. Damals hatte ich keine Ahnung, dass ich sie schon sehr bald wiedersehen würde.

Mein Vater, der als Arzt arbeitete, hatte den Hippokratischen Eid auch in diesen schwierigen Zeiten befolgt und keine Unterschiede bei der Behandlung seiner Patienten gemacht. Als Gegenleistung schmiedeten einige seiner Patienten, die als Soldaten eigentlich verfeindeten Armeen angehörten, einen Plan, um mich von Ljubuški nach Mostar zu meiner Familie zu bringen. Der Besuch des Rotkreuzmitarbeiters markierte den Beginn dieser außergewöhnlichen Zusammenarbeit.

Soldaten der bosnischen Armee vereinbarten mit kroatischen Soldaten, mich an einem Treffpunkt in Empfang zu nehmen und nach Mostar zu bringen. Kroatische Soldaten geleiteten mich bis zur Grenze und übergaben mich dort der bosnischen Armee. Es war skurril: All die Berichte über vermeintliche Feinde, die sich bekriegen und gegenseitig hassen und da trafen sie nun aufeinander - lachend, Hände schüttelnd, miteinander redend, als wäre es ein lockeres Treffen mit Freunden, die man lange nicht mehr gesehen hat.

Wiedersehen mit der Mutter

Ich erinnere mich daran, dass ich meine Heimatstadt zunächst nicht wiedererkannte, weil alles zerstört war und sich die Infrastruktur verändert hatte. Aber die Gestalt, nach der ich mich so lange gesehnt hatte, erkannte ich sofort - meine Mutter. Sie umarmte mich und hielt mich ganz fest, so als hätte sie Angst, mich sonst wieder zu verlieren. Vermutlich hat sie bis zu dem Moment unseres Wiedersehens nicht an meine Rückkehr geglaubt. Sie weinte, wischte ihre Tränen aber schnell weg und begann zu lachen. Sie fragte, wie es mir ginge, führte mich herum und stellte mich anderen Leuten vor, als wir vor unserem Zuhause standen. Meine Schwester erkannte mich zunächst nicht und war anfänglich schüchtern, dann aber begann sie, mit mir zu sprechen und sich an unsere verrückten Spiele und Gespräche zu erinnern. Mein Vater stand da und beobachtete mich eine Zeitlang, er konnte es wohl selbst noch nicht glauben, dass ich wieder da war.

Ja, ich kehrte in eine kriegszerstörte Stadt zurück, auf die ständig Bomben fielen, Menschen starben und es weder Wasser noch Strom gab. Doch für mich zählte nur eins: Meine Mutter, mein Vater und meine Schwester waren da. Sie um mich zu haben, machte diesen Ort für mich zum richtigen Ort.

Damals war ich kein Kind mehr. Ich war erwachsen geworden, meinen Eltern gleichgestellt. Ich musste mich am Alltag beteiligen, Wasser und Holz holen, die zerstörte Wohnung wiederaufbauen. Mir war klar, worin unsere Hauptaufgabe bestand: zu überleben.

Mostar - einst frei, dann geteilt

Der Krieg dauerte immer noch an, doch sein Ende war nun absehbar. Die Straßen wurden gesäubert, die Menschen konnten ihre Häuser häufiger verlassen, sie kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück, Kinder nahmen ihren Unterricht an den Schulen auf. Die Normalität kehrte zurück, auch wenn das Leben in Mostar zu dieser Zeit hart war. Vor allem für die Erwachsenen, die noch Erinnerungen an ihr Leben vor dem Krieg hatten, als Mostar zu den schönsten Städten Jugoslawiens gehörte. Die ehemals freie Stadt war nun geteilt: muslimische Bosniaken im Osten, Kroaten im Westen. Um auf die andere Seite zu gelangen, musste man an Checkpoints vorbei - ähnlich wie in Berlin bis zum Jahr 1989. Es ist seltsam, dass die Geschichte wiederkehrt und die Menschen nicht aus ihr lernen.

Die Europäische Gemeinschaft mischte sich in den 1990er Jahren in die Geschehnisse nicht ein und stimmte ihnen damit stillschweigend zu. Durch ihre Passivität unterstützte und ermutigte sie die Ideologie der damaligen Regimes: Dass ein Volk, um des "Friedens" willen das andere niederkämpfen muss.

Kroatien ist inzwischen EU-Mitglied, Serbien hat Kandidatenstatus, aber Bosnien-Herzegowina, das Land, das am meisten unter dem Krieg gelitten hat, droht ein scheiternder Staat zu werden - vor den Toren Europas. Die Lähmung der Politik, die hohe Arbeitslosigkeit und die grassierende Korruption führten im vergangenen Jahr zu Ausschreitungen in Sarajevo.

In der Vergangenheit hat die EU damit gedroht, das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zu blockieren, um unsere Politiker zum Handeln zu zwingen. Doch die Bestrafung hatte nicht den gewünschten Effekt: Die politische Elite fühlte sich nicht verpflichtet, die notwendigen Reformen umzusetzen. Vor Kurzem änderte die EU ihre Strategie: Der Rat der Europäischen Union hat den Weg für Bosnien und Herzegowina freigemacht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Diese Nachricht wurde nach der langen Wartezeit mit Freude aufgenommen. Im Gegenzug erwartet die EU, dass sich unsere Politiker an ihre Versprechungen halten.

Wie der Krieg mein Leben bis heute prägt

Ich bin jetzt 33 Jahre alt und lebe in Sarajevo. Ich bemühe mich, ein europäisches Leben zu führen, wie es auch meine Eltern vor Ausbruch des Krieges getan haben. Europäisch heißt für mich in diesem Zusammenhang: an unterschiedliche Orte zu reisen, mit Menschen unterschiedlicher Religion, Nationalität und Ethnie zusammen zu sein. Unsere Politiker versuchen, uns zu kontrollieren und geben uns zu verstehen, dass es falsch ist, verschieden zu sein.

Manchmal wüsste ich gerne, wie meine Kindheit ohne die Kriegserfahrung verlaufen wäre. Auch wenn ich damals die Ereignisse nicht begriffen habe, war der Krieg Teil meines Lebens geworden. Ein permanentes, unbewusstes Gefühl der Bedrohung ist tief in mir verwurzelt. Ich frage mich, wie es sich anfühlt, keine Todesangst, sondern nur Angst vor einem Schultest zu haben. Sich nicht in einem Bunker verstecken zu müssen, sondern ins Ausland reisen zu können. Der Krieg hat mich gelehrt, mein Leben ernster zu nehmen, seinen Wert zu schätzen und dankbar zu sein, am Leben zu sein.

Ich möchte daran mitwirken, wie sich die Gesellschaft an die Angriffe in Bosnien und Herzegowina in den Jahren 1992 bis 1995 erinnert. Damit sie nicht vergessen werden, müssen wir immer wieder darüber sprechen und dürfen keine Wiederholung dulden. Es ist wichtig, konstant am Frieden zu arbeiten.

Die Grenze in Mostar ist fast nicht mehr zu sehen, es gibt keine Checkpoints mehr, keine Soldaten, keine Panzer. Man kann die bevorstehende Einheit spüren. Versteckt zwar, aber sie ist da und wartet auf den perfekten Moment des Erwachens. Oder auf die perfekte Generation.

Eine Grenze lässt sich entfernen. Die Geschichte nicht.

Übersetzung: Dorothea Jestädt

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