20 Jahre Mordfall Palme:Tausend Motive, den Mörder zu suchen

Ein Besuch bei den schwedischen Ermittlern, die seit 1986 daran arbeiten, den Fall Olof Palme aufzuklären.

Gunnar Herrmann

Nur wer genau hinsieht, erkennt den schwach goldenen Schimmer. Straßenschmutz verdeckt den Schriftzug, sodass man nur lesen kann: "Auf diesem Platz . . . Schwedens Staatsminister . . . Palme, 28. Februar 1986".

Der schwedische Staatsminister Olof Palme

Noch immer steht nicht fest, wer Olof Palme am 28. Februar 1986 ermordet hat.

(Foto: Foto: dpa)

Kaum ein Stockholmer bleibt in diesen Tagen stehen bei der Gedenktafel an der Ecke Sveavägen und Olof Palmes Gatan. Dabei beschäftigt der Mord, der hier vor 20 Jahren geschah, das Land noch immer.

Die Fakten kennt beinahe jedes Kind, und zum Jahrestag werden sie wieder überall geschrieben und gesendet: Am Abend des 28. Februar 1986 macht sich Schwedens Regierungschef Olof Palme mit seiner Frau Lisbet nach dem Besuch einer Vorstellung im Kino "Grand" gegen 23.15 Uhr auf den Heimweg. Das Ehepaar flaniert den Sveavägen hinunter zur U-Bahnstation Hötorget.

Plötzlich taucht ein Mann hinter den beiden auf. Er feuert zwei Schüsse ab, einer tötet den Staatsminister, der andere verletzt seine Frau. Während Lisbet Palme neben ihrem sterbenden Mann kniet, hat sie kurz Blickkontakt mit dem Killer, bevor er sich umdreht und in eine Nebenstraße flüchtet. Wer er war und warum er schoss, ist bis heute unklar. Theorien gibt es viele, und fast jeder Schwede weiß irgendeine Antwort auf die Frage nach dem Mörder.

Stig Edqvist ist deshalb eine Ausnahme, denn er beantwortet diese Frage nicht. Er gibt auch keinen Verdacht preis. Stig Edqvist ist der Leiter der "Palme Einheit", also der Fahndungsgruppe der schwedischen Kripo, die seit 20 Jahren den Ministerpräsidenten-Mord untersucht.

Edqvist ist ein bulliger Typ mit einem kantigen, aber freundlichen Gesicht und lebhaften Augen. Obwohl er auf die wichtigste Frage also keine Antwort geben kann, weil man den Mörder eben nicht kennt, redet Edqvist gerne und viel über seinen Fall. Zum Beispiel darüber, dass der wohl inzwischen zur weltweit größte Ermittlung der Kriminalgeschichte angewachsen ist. Etwa 700 000 Dokumente hat die Polizei gesammelt, einem Zeitungsbericht zufolge hat das bis heute 350 Millionen Kronen gekostet, etwas mehr als 37 Millionen Euro.

Einen Alkoholkranken als Mörder verurteilt

Ein Untersuchungsbericht für das Parlament verglich die Ermittlungen wegen ihres Umfangs einmal mit denen nach dem Kennedy Mord oder dem Flugzeugabsturz bei Lockerbie. Beide habe man inzwischen aber bestimmt übertroffen, sagt Edqvist. Die Akte Palme konnte im Gegensatz zu den Akten Kennedy und Lockerbie eben nie geschlossen werden.

Das sah schon einmal anders aus. Lange bevor Edqvist 1997 die Abteilung übernahm, gab es eine heiße Spur und einen Mordverdächtigen. Der hieß Christer Pettersson und war ein alkoholkranker Krimineller. Mehrere Personen wollen ihn am "Grand" gesehen haben. Die wichtigste Zeugin: Lisbet Palme selbst. Sie identifizierte Pettersson bei einer Gegenüberstellung, und ein Gericht verurteilte ihn 1989 wegen des Mordes. Im gleichen Jahr wurde er in nächster Instanz freigesprochen. Die Polizei hatte bei der Gegenüberstellung geschlampt, außerdem fehlten ein plausibles Mordmotiv und, noch viel wichtiger, die Tatwaffe. 1998 entschied das oberste Gericht, dass das Verfahren gegen Pettersson nicht wieder aufgenommen werden darf.

Edqvist und seine Ermittler befinden sich nun in einer Zwickmühle: Sie können einerseits nicht mehr gezielt gegen Pettersson ermitteln. Andererseits ist Lisbet Palme, die dem Mörder ins Gesicht sah, nach wie vor davon überzeugt, dass Pettersson der Todesschütze war. Mit dieser Aussage würde sie jeden anderen Verdächtigen vor Gericht entlasten. "Unsere einzige Chance ist, dass irgendwann die Tatwaffe auftaucht und wir die einem Mörder zuordnen können", sagt Edqvist. Das wäre ein handfester Beweis.

Angeblicher Augenzeuge im Fernsehen

Von der Smith&Wesson, Kaliber .357, fehlt allerdings jede Spur. Die Waffe wird wohl auch zum 20. Jahrestag nicht auftauchen. Dafür aber bringen die Medien neue Enthüllungen. Das war bis jetzt bei jedem Jahrestag so. Zum 15. zum Beispiel füllte Pettersson noch selbst die Titelseiten. Er gestand den Mord in einem Zeitungsinterview und dementierte später alles. Pettersson ist im Jahr 2004 gestorben - unter nie ganz geklärten Umständen.

Diesmal war es deshalb ein Fernsehjournalist, der mit dem Beitrag "Ich sah den Palme-Mord" Schlagzeilen machte. Knüller des Films, der am Sonntagabend lief, ist die Aussage des Drogenabhängigen Roger Östlund. Der wurde zwar schon mehrmals von der Polizei vernommen, aber nun, auf dem Sterbebett, will er angeblich die Wahrheit erzählen. Er behauptet, dass er Pettersson beim Mord beobachtet hat.

Und Östlund weiß auch ein Motiv: Pettersson, sagt er, will an dem Mordabend eigentlich im Auftrag eines Gangsterbosses den Drogendealer Sigge Cedergren überfallen, der in der Nähe des "Grand" wohnt. Weil Cedergren und Palme etwa gleich groß sind und sich ähnlich kleiden, verwechselt der mit Amphetaminen voll gepumpte Pettersson die beiden. Er verfolgt Palme und bemerkt erst nach den Schüssen seinen Irrtum. Der schwedische Ministerpräsident, Opfer eines Gangsterkriegs? Eine Sensation?

Nicht für Stig Edqvist. "Es ist bedauerlich, dass diese Aussage uns nicht ein paar Jahre früher vorgelegen hat", sagt er trocken. Aber man sei an solche Überraschungen gewöhnt. "Wir rechnen damit, dass in der Zeit um den 28. Februar insgesamt etwa 200 neue Hinweise bei uns eingehen", sagt Edqvist. Darunter werden neben ernst zu nehmenden Tipps auch Leute sein, die ihren Nachbarn verdächtigen. Weil sie sich plötzlich erinnern, dass der in der Mordnacht in die Innenstadt gefahren ist und erst spät nach Hause kam.

Die Zeit der Volksheime endete

Das Land hat sich mit dem ungelösten Fall arrangiert, obwohl der Palme-Mord für viele Schweden eine besondere Bedeutung hat. Er steht für das Ende der guten alten Zeit. Einer Zeit, in der es sich Schweden im "Volksheim" gemütlich gemacht hatten und in der Spitzenpolitiker ohne Leibwächter gemeinsam mit ihren Mitbürgern durch Stockholm spazieren konnten.

Diese Zeit ist vorbei, und die Frage nach dem Wie und Warum des Palme-Mords ist deshalb auch eine Frage danach, weshalb sich die Gesellschaft so verändert hat. Während nach der Antwort noch gesucht wird, haben sich die meisten Schweden aber in der neuen Zeit ganz gut eingerichtet.

Das gilt auch für die Palme-Einheit. Die befasst sich seit 1992 auch mit anderen Aufgaben. Es sei niemandem zuzumuten, so viele Jahre mit einer einzigen Ermittlung zu verbringen, sagt Edqvist. Die 14-köpfige Truppe kann deshalb einige andere Fahndungs-Erfolge vorweisen. Zum Beispiel half sie mit, den "Laser-Mann" zu fassen, einen verrückten Serienmörder, der Schweden Anfang der neunziger Jahre in Atem hielt.

Auch bei den Ermittlungen nach dem Mord an der Außenministerin Anna Lindh im Jahr 2003 war sie beteiligt. Im vergangenen Jahr rückte Palme für eine ganze Weile völlig in den Hintergrund, weil Edqvist und seine Leute zwölf Monate lang Tsunami-Opfer identifizierten. Seine Einheit, sagt Edqvist, werde immer bei kniffligen Fällen geholt. Die Abteilung wird wohl erhalten bleiben, wenn der Palme-Mord irgendwann zu den Akten gelegt wird. Egal, ob sie herausfindet, was am 28. Februar 1986 wirklich passiert ist.

Neulich war Edqvist wieder mal dort, bei der Gedenktafel am Sveavägen. Ein Fernsehteam wollte Aufnahmen machen für den Jahrestag. Sonst kommt er eigentlich nicht mehr dorthin. "Das ist für mich kein besonderer Platz", sagt Edqvist. Dann überlegt er: "Also, wenn man bedenkt, dass dort der Ministerpräsident ermordet wurde, ist es natürlich schon ein besonderer Platz." Vielleicht hat auch Stig Edqvist, natürlich nur für sich persönlich, den Fall abgeschlossen.

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