Mauerfall 1989:Warum Erich Mielke die Panzer nicht rollen ließ

Friedliche Revolution aufbegehrender DDR-Bürger: Der Parole "keine Gewalt" konnte das Regime sich im Herbst 1989 nicht entziehen.

Martin Sabrow

Heute vor zwanzig Jahren geschah das Wunder, dass die Mauer dem Druck der Massen nachgab und die eben noch so festgefügte Diktatur in der DDR vor ihren aufbegehrenden Bürgern zusammenbrach. Der Kern dieses Wunders liegt in der verblüffenden Gewaltlosigkeit, mit der eine kommunistische Diktatur seine Macht preisgab, deren Kennzeichen über vierzig Jahre hinweg die Bereitschaft zur rücksichtslosen Gewaltausübung gewesen war.

Montagsdemonstrationen; Berlin; Mauerfall; DDR

Unter dem Motto "Keine Gewalt" gingen am 4. November 1989 Hunderttausende in Ostberlin auf die Straße, um gegen das DDR-Regime zu protestieren. Fünf Tage später fiel die Mauer.

(Foto: Foto: dpa)

Der unblutige Ausgang verdeckt, wie gewaltentschlossen in Wort und Tat der SED-Staat zunächst auf Bürgerbewegung, Massenflucht und Massendemonstrationen reagierte. Die brutale Härte der Sicherheitskräfte erlebten die Bürger, die sich am 4. Oktober am Dresdner Hauptbahnhof versammelt hatten, um die von Prag kommenden Züge voller Ausreisender zu sehen.

Sie traf die Demonstranten, die sich am 7. und 8. Oktober auf dem Alexanderplatz und vor dem Palast der Republik in Berlin versammelten, in dem das SED-Regime den vierzigsten Jahrestag der Republik feierte.

Aggressiver Kampfaufruf

Vor allem aber die Montagsdemonstration vom 9. Oktober in Leipzig mit ihren 70. 000 Teilnehmern hätte im Bürgerkrieg enden können. Am 8. Oktober hatte der genesene Honecker die Bezirkssekretäre der SED telegraphisch angewiesen, weitere Krawalle "von vornherein zu unterbinden", am selben Tag ordnete Mielke volle Dienstbereitschaft für alle MfS-Angehörigen an.

Zur Durchsetzung des Honecker-Befehls wurden für den 9. Oktober 8000 Einsatzkräfte zusammengezogen. Doch zugleich schloss das Regime es offenbar völlig aus, die Proteste mit Waffengewalt zu ersticken. Anfang Oktober erging strikter Befehl, dass die zur Niederschlagung innerer Unruhen gebildeten militärische Hundertschaften in Leipzig ohne Bewaffnung einzusetzen seien.

Selbst als Erich Mielke in der Politbürositzung am Tag nach der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober die Niederlage bilanzierte, schlug sein aggressiver Kampfaufruf unvermutet in einen Friedensappell um: "Machtfrage. Hauptangriff auf die Partei. Große Schärfe. Alle Kräfte mobilis(ieren), Feinde bekämpfen. Kirche tritt dem Staat offen entgegen. Keine Gewalt ist jetzt die Losung."

Die Lähmung, die da zum Ausdruck kommt, war keine Augenblicksschwäche. Eine Woche später, auf der Politbürositzung am 17. Oktober, als Willi Stoph die Ablösung von Honecker beantragte, erklärte Mielke: "Wir haben vieles mitgemacht. Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen."

Warum wies die SED-Führung in der größten Krise den Gedanken an eine militärische Sicherung der Macht von sich, die sie vierzig Jahre mit allen Mitteln verteidigt hatte? Warum war in diesem entscheidenden Moment "keine Gewalt" im innersten Zirkel des hochgerüsteten SED-Staates die Losung der Stunde?

Anders als 1953 hätten die militärischen Mittel des SED-Staates gereicht, auch noch so gewaltige Demonstrationszüge in noch so vielen Städten der DDR zu zerstreuen. Noch immer beschäftigte das MfS mehr Mitarbeiter, als die Leipziger Montagsdemonstration an Teilnehmern mobilisierte, noch immer beantragten 1989 dreimal so viele DDR-Bürger die Mitgliedschaft in der SED, als sich zu den Gruppen der Opposition bekannten.

Eine erste Erklärung bietet die innere Lähmung der SED-Führung während des krankheitsbedingten Ausfalls von Honecker im September 1989. Es fehlte der Mut zu einer offenen Grundsatzdiskussion. Nicht weniger entscheidend: Für den Reformflügel der SED-Führung, der auf die Entmachtung Honeckers hinarbeitete, bildete der Gewaltverzicht die unerlässliche Bedingung der Palastrevolution. Jede Eskalation hätte einen friedlichen Kurs- und Personalwechsel unmöglich gemacht, er hätte die Macht der Hardliner gerettet, wie 35 Jahre zuvor die Entmachtung Ulbrichts durch den Juniaufstand von 1953 verhindert wurde.

Den neuen Zeiten Rechnung tragen

Zugleich unterlief die Losung der Demonstranten "Keine Gewalt" erfolgreich die Reaktionsschwellen einer kommunistischen Diktatur, die immer noch in den Kategorien des Kalten Krieges und des Hochstalinismus dachte. Doch anders als 1953 ließ sich die Gegnerschaft zum SED-Staat in den achtziger Jahren nicht einfach als Feindschaft zum Sozialismus lesen.

Mauerfall 1989: Martin Sabrow ist Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Er war Vorsitzender der Regierungskommission "Aufarbeitung der SED-Diktatur".

Martin Sabrow ist Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Er war Vorsitzender der Regierungskommission "Aufarbeitung der SED-Diktatur".

(Foto: Foto: oh)

Der Bürgerprotest stellte die Legitimitäts-, aber nicht die Systemfrage, und sein revolutionärer Charakter sollte sich erst im Ergebnis des Umbruchs erweisen - zum Unwillen vieler seiner mutigsten Akteure. Dass Friedensgebete und Kerzen den Aufstand der Massen in der DDR begleiteten, verdankt sich dem Schutz- und Handlungsraum der evangelischen Kirche. Der Austausch des kommunistischen Parteicharismas durch das religiöse Charisma der Bergpredigt erhöhte die innere Stärke und das Selbstvertrauen der Regimegegner und sicherte den Verzicht auf gewaltsamen Protest.

Die tiefste Begründung für den friedlichen Untergang des deutschen und europäischen Staatskommunismus aber lag im fundamentalen Legitimationsverlust von Gewalt, die das politische Denken im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts so sehr von der Gewaltkultur der ersten Jahrhunderthälfte unterscheidet.

Dass die um ihre Macht kämpfenden SED-Eliten ebenso wie ihre Gegner auf der Straße an der Losung "Keine Gewalt" festhielten, liegt am Niedergang der Gewalt als politischer Handlungsoption, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Aufstieg der Menschenrechte zur zentralen politischen und kulturellen Norm in der westlichen Welt begleitete.

Fortschreitende Entgewaltung

Der diktatorische Sozialismus der DDR ging nicht nur an seinen wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten und am Verlust seines blockpolitischen Rückhaltes zugrunde, sondern auch an einer schleichenden politisch-kulturellen Werteverschiebung, die den Schutz und die Entfaltung des Individuums an die Stelle von Kollektivsubjekten wie Klasse, Volk und Gemeinschaft gerückt hatte und so die kommunistische Legitimation der Herrschaft durch Gewalt untergrub.

Die fortschreitende "Entgewaltung" in der politischen Kultur der Bundesrepublik hatte in den späten siebziger und achtziger Jahren zunächst die Revolutionsromantik der Neuen Linken in das Basisengagement der neuen sozialen Bewegungen überführt. So erreichte die kulturelle Delegitimierung der Gewalt auch die DDR - so sehr, dass sie im entscheidenden Moment das Handeln der Herrschenden lähmen half.

Niemand erkannte dies klarer als Erich Mielke, der im Frühjahr 1989 seine obersten Mitarbeiter wissen ließ: "Wo noch etwas mehr revolutionäre Zeiten waren, da war es nicht so schlimm. Aber jetzt muss man den neuen Zeiten Rechnung tragen."

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