20 Jahre Mauerfall:Per Anhalter in den Westen

Zwei Mal will Martin Jessel aus der DDR fliehen. Zwei Mal tauchen seine Schleuser nicht auf. Dann benutzt die Stasi ihn als Lockvogel. Eine Fluchtreportage.

Jonas Reese

Der Abschied muss schnell gehen. Niemand darf Martin Jessel und seinen Freund Johannes sehen. Eine kurze Umarmung, ein trockenes "Viel Glück!".

20 Jahre Mauerfall: Zusammengekrümmt im Kofferraum eines Schleuserautos - so wäre Martin Jessel vielleicht auch über die Grenze geflohen.

Zusammengekrümmt im Kofferraum eines Schleuserautos - so wäre Martin Jessel vielleicht auch über die Grenze geflohen.

(Foto: Foto: dpa)

Jessel sprintet los. Vom Auto zum ersten Baum eines kleinen Waldstücks, er wirft sich hin, liegt auf dem Bauch, macht sich ganz flach. Der modrige Geruch des Laubs steigt ihm in die Nase.

Stockdunkel ist diese Nacht des 8. März 1980, eisig pfeift der Wind. Jessel blickt sich um. Von einem kleinen Erdwall aus kann er die Fernstraße 5 weit hinunterschauen. Von dort wird er kommen, der Unbekannte mit dem Westauto, denkt sich Jessel. Er soll ihn aufnehmen und ihn über die Grenze schmuggeln.

Als Erkennungszeichen für den Fahrer ist ein brauner Lederhalbschuh vereinbart. Wie zufällig soll er am Straßenrand liegen. Er soll sein letzter Fußabdruck im Osten werden.

Eingepackt in drei Pullover, lange Unterhose und den geliebten Parka wartet Jessel auf die Fahrt in die Bundesrepublik. Schon jetzt fühlt er sich ein Stück freier. Alles hat er zurückgelassen. "Nur mein Abschlusszeugnis, den Ausweis und etwas Westgeld hatte ich dabei", sagt Martin Jessel heute.

Er ist Restaurator geworden, lebt in einem Dorf nahe der deutsch-dänischen Grenze. Er steht kurz vor dem Ruhestand und kramt in seinem Gedächtnis. Er spricht nicht so oft über seine Geschichte, der Presse wollte er sie eigentlich gar nicht erzählen. Mit dem Kapitel DDR hat er schon lange abgeschlossen. Es ist so lange her: Knapp dreißig Jahre sind vergangen.

Aber es gibt eine probate Gedächnisstütze: Seine Stasi-Akte. Vor ihm liegt sie auf dem Tisch, dick wie das Münchener Telefonbuch. Es ist das Produkt emsiger Spitzelarbeit: Selbst Briefe von seiner Mutter wurden abgefangen und kopiert. Viele Details seiner Geschichte muss er erst in dem Aktenberg nachschlagen. Bei manchen Formulierungen lacht er laut: "Verteidigung des Friedens? So ein Quatsch."

Ein Stück seiner Geschichte hat die Staatssicherheit mitgeschrieben. In langen Schachtelsätzen beschreibt sie darin das "Objekt Jessel", der "zur Politik der DDR eine feindselige Haltung einnimmt". Auf mehr als hundert maschinengetippten Seiten hat sie den Menschen Jessel zu einem "Operativvorgang" degradiert. Die wichtigsten Szenen von Jessels Flucht-Odyssee verpasst die Stasi, den Beginn sowieso.

Eine Frau zum Rausheiraten

Eigentlich beginnt alles mit einer Party und einem Satz, der gar nicht so gemeint war: "Such mir drüben eine Frau zum Heiraten", flüstert Martin Jessel einer Freundin zu. Sie feiert gerade ihre Abschiedsparty. Sie hatte geschafft, wovon er schon lange träumte: Sie durfte in den Westen, im Winter 1978.

Ein Jahr später klingelt es an Jessels Ostberliner Wohnungstür. Ein Kurier überbringt ihm die Nachricht: Die Freundin hatte zwar drüben keine Frau zum "Rausheiraten" gefunden, dafür aber eine Schleuserorganisation. Man könne ihn über die Grenze schmuggeln. Per Pkw über die Transitstrecke Berlin-Hamburg. Weitere Anweisungen würden folgen. Kostenpunkt: 20.000 Westmark.

Nur 70 von 400 Fluchtversuchen gelangen

Seit dem Transitabkommen 1972 ist diese Variante eine gängige Methode der Flucht. Seitdem dürfen Reisende zwischen Westberlin und BRD an der Grenze nicht mehr durchsucht werden. Am gefährlichsten daran ist vor allem das Zusteigen entlang der Strecke. Es ist streng verboten, auf dieser Route anzuhalten, die Trassen sind dementsprechend intensiv überwacht.

20 Jahre Mauerfall: Das Pantomime-Spiel war damals Jessels große Leidenschaft und eine Form des "stillen Protests".

Das Pantomime-Spiel war damals Jessels große Leidenschaft und eine Form des "stillen Protests".

(Foto: Foto: privat)

Abitur oder Studium sind für Jessel in der DDR unmöglich

In der Zeit, als Jessel Honeckers Arbeiter- und Bauernstaat verlassen will, Anfang der achtziger Jahre, gibt es pro Jahr durchschnittlich 4000 Fluchtversuche. So viel zählt jedenfalls das zuständige DDR-Organ mit dem sperrigen Namen "Zentrale Koordinierungsgruppe Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung" des Ministeriums für Staatssicherheit. Weniger als ein Viertel davon war erfolgreich. Bei Ausschleusungen war die Quote noch schlechter. Glaubt man den Zahlen der im Volksmund "VEB Guck und Horch" genannten Behörde gelangen 1980 von knapp 400 Versuchen nur etwa 70.

Jessel kennt diese Zahlen nicht. Er zögert keine Sekunde, das Risiko einzugehen. Zu eng ist es ihm in der DDR, zu groß die staatliche Bevormundung. "Das politische Gesülze und die Gleichmacherei" gehen ihm auf die Nerven. Er will noch etwas von der Welt sehen. Und vor allem: Er will sich beruflich entfalten können.

Die Chance dazu hat er im SED-Regime nicht. Jessel kommt aus einem kirchlichen Elternhaus. Er ist weder in der Pionierorganisation noch in der Freien Deutschen Jugend (FDJ), dem sozialistischen Nachwuchsverband, gewesen. Die Entscheidung, nicht mitzumachen, hat einen hohen Preis: Er darf kein Abitur machen, an ein Studium ist nicht zu denken, sagt er.

Jessel blättert in seiner Stasi-Akte, auf dem Tisch steht ein Glas Bio-Rotwein, im Hintergrund bollert ein kleiner Ofen. "Wie ein Stachel", sagt Jessel, "so steckte der Wunsch nach einem Leben im Westen in mir."

Prägend ist der Weg eines guten Schulfreundes. Der zieht mit seiner Familie in den Westen, einen Tag später wird Westberlin dichtgemacht: Die Mauer wird gebaut. Da ist Jessel 13. Sie schreiben sich regelmäßig Briefe und wenn der Freund auf Ostbesuch kommt, schmieden sie Fluchtpläne. Jessel setzt sich in den Kopf, der Erste aus seiner Familie zu sein, der rauskommt. Schließlich wird er der Letzte sein.

Nach der Schule verweigert Jessel den Wehrdienst, er muss zu den Bausoldaten. Jessel macht eine Ausbildung zum Restaurator. Seine Leidenschaft ist aber das Pantomime-Spiel. Es sei für ihn auch eine Form des stillen Protests gewesen, sagt er, aber leben kann er damals nicht davon.

Für eine andere Zukunft scheint es nur einen Weg zu geben: Raus aus der DDR. Jessel entschließt sich, das Angebot der Schleuser anzunehmen. Da ist er 31 Jahre alt.

Eine Cousine in Bayern streckt die ersten 10.000 DM vor. Die zweite Hälfte ist erst nach erfolgreicher Ausschleusung fällig.

Es läuft ab wie im Film. Jessel erhält die Anweisung, jeden Montag zu Hause zu bleiben, um die nächsten Instruktionen zu empfangen. Er kündigt seine Arbeit beim VEB Denkmalpflege, verkauft seinen himmelblauen Trabant Kombi. Wenige Wochen später überbringt ihm ein Kurier die Nachricht: Am 8. März 1980 soll es soweit sein.

Jessel darf keinem etwas sagen, nicht seiner Mutter, nicht seiner Schwester oder irgendeinem seiner Freunde. Nur seinen besten Freund Johannes weiht er ein. Der bringt ihn zum vereinbarten Treffpunkt: Kilometerstein 143 auf der Fernstraße 5 zwischen Perleberg und Ludwigslust - 80 Kilometer von der Grenze entfernt. Noch 80 Kilometer sind es bis zum Ziel.

Der erste Fluchtversuch

Martin Jessel liegt im Laub und wartet. Es ist nur wenig Betrieb auf der F 5. Das ist gut. Umso leichter kann der unbekannte Fahrer anhalten. Es wäre zu gefährlich, zu stoppen und einzusteigen, wenn sich ein weiteres Auto in Sichtweite befindet. Was nach dem Einsteigen passieren wird, weiß Jessel noch nicht. Vielleicht muss er in den Motorraum oder in die ausgehöhlte Rückbank. Ihm wurde gesagt, er solle die Anweisungen des Fahrers abwarten.

Bei jedem Lichtkegel in der Ferne schlägt sein Herz schneller. "Das könnte es sein. Ein Westfabrikat. Ja, es wird langsamer." Doch nicht. Der Fahrtwind eines Wagens weht den braunen Halbschuh vom Asphalt. Vorsichtig wagt sich Jessel aus seinem Versteck, um das Erkennungszeichen zurück an den Straßenrand zu legen.

Stunden verstreichen, nichts passiert. Als es dämmert, hört er auf, den Schuh zurückzulegen. Er hat die Hoffnung aufgegeben. Die freudige Spannung weicht der Furcht. Irgendwie muss er wieder zurück nach Berlin kommen, unauffällig. Er ist auf der Flucht, nur anders, als er dachte.

Warum ist keiner gekommen?

Im Schutz der Morgendämmerung eilt er parallel zur Fernstraße in die Richtung, aus der er gekommen ist. Was soll er sagen, wenn ihn eine Streife anhält? Er ist auffällig verdreckt und dick eingepackt.

Erst in der S-Bahn in Nauen fällt alles von ihm ab: die Angst, die Kälte und die Anspannung. "Warum ist keiner gekommen?", fragt er sich. Jessel weiß es bis heute nicht.

Am späten Vormittag erreicht Jessel Ostberlin. Er legt sich in das Bett, in dem er nie mehr schlafen wollte. Eine andere Angst kriecht in ihm hoch: "Was passiert, wenn sie den Fahrer geschnappt haben? Was, wenn man mich gesehen hat?"

Jessel denkt ans Gefängnis. Vielleicht wird er nach Hohenschönhausen gesteckt, den berüchtigten Stasi-Knast. Verhören würde man ihn, hart rannehmen, vielleicht muss er in Isolationshaft.

Doch es passiert nichts, Jessel hat Glück: Die Staatssicherheit hat nichts von seinem Versuch mitbekommen.

"Sie hatten ihren Job ja noch nicht erledigt."

Der Versuch ist misslungen. Der Drang abzuhauen ist unverändert, ja wächst sogar noch. Nein, Jessel kann jetzt nicht einfach sein altes Leben wieder aufnehmen.

Er wagt es ein zweites Mal. Er ergreift selbst die Initiative und beauftragt den Westcousin der Nachbarn, Kontakt zu den Fluchthelfern aufzunehmen. "Sie hatten ihren Job ja noch nicht erledigt", sagt er heute und lächelt dabei.

Der Cousin findet die Schleuser. Alles läuft nach dem gleichen Muster ab. Doch bald bemerkt Jessel, dass er beschattet wird: Die Stasi hatte Witterung aufgenommen: "Die hat man ja schon von weitem erkannt," sagt Jessel und nippt an seinem Weinglas, "grauer Parka und Herrentasche."

Minutiös kann Jessel sein damaliges Verhalten heute in seiner Stasi-Akte nachlesen. Der erste Eintrag stammt vom 5. September 1980: "9 Uhr 30 schaut Jessel zirka 30 Sekunden aus dem Fenster und verfolgt intensiv den Fußgängerverkehr."

Eine Woche vor dem ersten Akteneintrag hatte die Stasi eine Kurierin festgenommen. Die Frau packte aus: Ja, sie habe Jessel "bezüglich seiner Ausschleusung kontaktieren" wollen.

Die Beamte legen den Operativvorgang (OV) "Denkmal" an. Dessen Ziel war es, so steht es in der Akte, "die Ausschleusung des im OV erfassten DDR-Bürgers, auf frischer Tat zu verhindern sowie in die Konspiration der kriminellen Menschenhändlerbande einzudringen". Jessel alias "Denkmal" sollte als Lockvogel dienen.

Spiel mit den Stasi-Agenten

Als Jessel seine Verfolger bemerkt, macht er sich einen Jux und stellt sie bloß. Diesen inneren Vorbeimarsch habe er sich damals nicht verkneifen können, sagt er mit einem jungenhaften Grinsen. "Vergiss morgen die Badehose nicht, ich fahr zum See", wirft er einem Agenten im Vorbeigehen zu. Den anderen bittet er, Geld für die Telefonzelle zu wechseln. Selbst das ist in seinen Akten nachzulesen.

Trotz intensiver Beschattung bekommt die Stasi auch Jessels zweiten Fluchtversuch nicht mit. Er findet noch im selben Monat statt. Wieder soll er sich an der F 5 bereithalten. Wieder soll er ein Erkennungszeichen an die Straße legen. Dieses Mal ist es eine geöffnete, goldglänzende Fischbüchse. Wieder wartet Jessel die ganze Nacht. Wieder umsonst.

Diesmal ist er sich jedoch sicher: Sein Fluchthelfer wurde geschnappt. Denn zwei Tage später, so erzählt er, berichtet das SED-Blatt Neues Deutschland von einer "Festnahme wegen Verstoßes gegen das Transitabkommen." Es bleibt aber nur eine Vermutung. In seiner Stasi-Akte ist nichts davon zu lesen. Jessel hat wieder Glück im Unglück gehabt.

Der Frust überwiegt jetzt, der Drang zu fliehen weicht der Resignation. Ein drittes Mal will er es nicht versuchen. Er wird Restaurator an der Akademie der Künste und lernt seine zweite Frau kennen. Sie heiraten ein Jahr später. Der Wunsch in den Westen zu gehen, lässt Jessel dennoch nicht los. Mit seiner Frau diskutiert er oft darüber. Sie will aber auf gar keinen Fall die DDR verlassen.

Die Stasi hatte IM Klamotte eingeschleust

Die Stasi werkelt weiter, die Akte zum OV "Denkmal" wächst Blatt um Blatt. Es gelingt, einen Informellen Mitarbeiter - Tarnname IM "Klamotte" - in die Fluchthilfegruppe einzuschleusen. Ohne Jessels Wissen bemühen sich die Schleuser mehrmals, den Kontakt zu ihm wiederherzustellen - erfolglos.

Die Kuriere der Gruppe treffen Jessel nicht mehr zu Hause an, da er sich die meiste Zeit bei seiner neuen Frau aufhält. "Sie wussten nichts von meiner Heirat", sagt Jessel. Natürlich hätte er es doch noch mal probiert. Das Ende wäre fatal gewesen: Es wäre sicher verhaftet worden.

So jedoch kommt die Stasi nach zweijähriger Arbeit zu dem Eindruck, dass der vermeintliche Abtrünnige doch nicht so fluchtgefährdet ist. Man habe nun die Erkenntnis, "daß J. nicht ernsthaft die Absicht hatte, sich ausschleusen zu lassen", notiert ein Stasi-Mitarbeiter im Abschlussbericht vom März 1982.

Bei der Begründung muss Jessel laut lachen: "Aus Angst vor seinen Bezugspersonen im Westen als Versager dazustehen, 'drückt' er sich vor Kontakten mit den Kurieren der Bande, um so nicht eindeutig seine Position darlegen zu müssen." Wegen "Perspektivlosigkeit" stellt die Stasi daraufhin den OV "Denkmal" ein.

Für untauglich befunden

Ein letztes Kapitel der Fluchtodyssee schreibt Jessel doch noch: Nach einem Jahr Ehe lassen sich er und seine Frau scheiden. Immer wieder streiten sie über ein gemeinsames Verlassen ihres Heimatlandes. Nach der Trennung versucht es Jessel über den offiziellen Weg und stellt einen "Antrag auf Übersiedlung".

Diesmal klappt es: Vier Monate später wird dem stattgegeben. Mittlerweile hatte das Innenministerium aufgegeben: "Im Ergebnis gründlicher Prüfung und mehrerer erfolgloser Rückgewinnungsgespräche ist festzustellen, daß Jessel hartnäckig auf seinem rechtswidrigen Übersiedlungsersuchen besteht und seine Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben in der DDR nicht mehr möglich ist."

Überraschenderweise steht in den Beurteilungen zum "rechtswidrigen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR" über die Fluchtabsichten und die Ziele des OV "Denkmal" nichts. Das hatte die Stasi wohl vergessen ans Innenressort weiterzugeben.

In der Begründung der Ausreisegenehmigung wird auch deutlich, durch welche Ängste der SED-Staat getrieben wurde. Sie ließen Jessel gehen, weil mittlerweile seine Mutter und seine Schwester bereits ausreisen durften. Familienzusammenführung nannte man das.

Vor allem erlaubten sie ihm die Ausreise aber, weil sie befürchteten, er könne über Kontakte zur westdeutschen Kirche für negative Propaganda sorgen: "Die von Jessel angedrohten Aktivitäten der möglichen Einbeziehung klerikaler Kräfte der BRD bei Ablehnung seines rechtswidrigen Übersiedlungsersuchens können politisch schädliche Auswirkungen für die DDR zur Folge haben." Image war dem Regime viel wert.

Über die Berliner Grenzabfertigungsstelle Bahnhof Friedrichstraße, wegen seiner zahlreichen traurigen Abschiedsszenen auch Tränenpalast genannt, überquert Jessel schließlich 1984 als Letzter seiner Familie die Grenze. Dieses Mal mit offizieller Erlaubnis.

Es ist wieder der 8. März - auf den Tag genau vier Jahre nach seinem ersten Fluchtversuch.

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