20 Jahre Mauerfall:Lustvoll in die Demokratie

Im Herbst 1989 kämpften Bürgerrechtler kreativ für mehr Freiheit in der DDR - und führten sie so in den Untergang. Ein Fieber namens Demokratie trieb sie dabei an.

Jens Schneider

Die Direktorin versperrte den Weg. "Ich lasse Sie hier mit den Kindern nicht raus", sagte die Vertreterin der Staatsmacht in der Schule in Ostberlin. Aber Ulrike Poppe wollte ihre Kinder dabeihaben an diesem Tag der großen Reformdemo auf dem Alexanderplatz. Also schob sie die Schulleiterin beiseite und nahm ihre Kinder mit. So einfach ging das nun, am 4. November vor zwanzig Jahren.

20 Jahre Mauerfall: Am 4. November 1989 demostrierten DDR-Bürger vor dem Palast der Republik für freie Wahlen.

Am 4. November 1989 demostrierten DDR-Bürger vor dem Palast der Republik für freie Wahlen.

(Foto: Foto: ddp)

Es war einer dieser kleinen Augenblicke, die zeigten, dass dieses Land nicht mehr das alte war. Als Jahre zuvor ihr Sohn eingeschult wurde, hatte die Staatssicherheit die Lehrer gewarnt. Auf keinen Fall sollten Poppes in den Elternbeirat. Sie seien Staatsfeinde.

Als sie davon erfuhr, weinte sie vor Entsetzen: Was tu ich meinen Kindern an mit meinem Widerstand, fragte sich Ulrike Poppe damals. Und nun ließ sich die Rektorin einfach wegschieben. Nun gab es immer öfter Erlebnisse, die vorher unvorstellbar gewesen waren. "An manchen Tagen passierte so viel wie vorher in Jahren nicht", erinnert sie sich an "Monate wie im Ausnahmezustand".

Im Video: 1988 produzierte die DDR einen Propagandafilm über Soldatinnen. 20 Jahre später erinnern sich drei von ihnen zurück.

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Diese Geschichte erzählt von drei Menschen, die geholfen haben, die DDR aus den Angeln zu heben. Da ist Ulrike Poppe, 56, die heute Studienleiterin an der Evangelischen Akademie zu Berlin ist. Sie gründete 1985 die "Initiative Frieden und Menschenrechte" mit, 1989 "Demokratie Jetzt". Ihr Name war seit ihrer Festnahme durch die Stasi 1983 auch im Westen bekannt.

Auch den Potsdamer Jes Möller, 48, heute Vorsitzender an einem Verwaltungsgericht und Verfassungsrichter in Brandenburg, hatte der SED-Staat früh im Visier. Dem Regime passte dessen Einsatz für die Umwelt nicht. 1989 baute er die Ost-SPD mit auf, um die "Diktatur ein für alle Mal abzuschaffen".

"Helden sind wir alle gewesen"

Die Erzieherin Beate Mihály ging in Dresden auf die Straße und gehörte dort zur "Gruppe der 20", die ihre Heimatstadt in die Demokratie führte. "Alle waren wichtig, jeder Einzelne; Helden sind wir alle gewesen", sagt die heute 64-Jährige aus Sachsen. "Keiner wusste, wie sich das Boot neigen wird. Wir wussten nur, dass richtig war, was wir taten."

Ulrike Poppe spürte den Aufbruch lange vor dem Jahr der Revolution. "Wir haben irgendwie geahnt, es geht los!" Schon als Kind hatte sie sich empört, wenn Jugendliche aus politischen Gründen von der Schule flogen, wenn alle Westfernsehen guckten, aber nicht darüber sprachen.

Sie hatte mit ihrer offen kritischen Haltung keine Perspektive, jobbte im Kinderheim, im Krankenhaus, als Hilfskraft im Museum. Ihre Heimat war die Opposition. Wegen "Landesverrats" wurde sie 1983 zusammen mit Bärbel Bohley verhaftet. Es war ein Vorwand, sie hatten mit einer Frau aus Neuseeland über die Lage der Frauen in der DDR gesprochen.

"Wir haben geweint um die, die gingen"

Nach sechs Wochen gab die Staatsführung Protesten aus dem Ausland, aber auch aus dem eigenen Land nach. "Wir kamen frei, weil der Druck so groß war." Es war ein Zeichen, dass die DDR Gegner nicht mehr einfach wegschließen konnte.

Damals waren sie wenige. Anfang 1989 war aus den mutigen Anfängen eine breite Opposition erwachsen, die mit Kontrollen in den Wahllokalen die Kommunalwahlen als Farce entlarvte. Dann kam die große Fluchtwelle und die zynische Reaktion der SED, die behauptete: Wir weinen denen keine Träne nach. "Das war so falsch. Wir haben geweint um die, die gingen", sagt Poppe.

Wie ein Fieber brach unter den Gebliebenen die Lust auf Demokratie aus. Sie wurde eingeladen, um mit aufgewühlten Bürgern über eine bessere Zukunft zu reden. Sie hat noch den Abend vor Augen, als in Leipzig Zehntausende demonstrierten.

Kommt man zu den eigenen Kindern?

In kurzen Abständen meldete eine junge Frau in die mit Menschen überfüllte Scheune in einem Dorf bei Berlin: "In Leipzig: 20.000!" Dann: "In Leipzig: 35.000!" Später: "50.000! Die Leute klatschten jedes Mal lauter!" Poppe musste nicht viel reden. "Die Menschen, die so lange geschwiegen hatten, wollten selbst reden und ihr Leben in die Hand nehmen."

Auch am Abend des Mauerfalls hockte sie in einer Runde. Um Wein zu holen ging einer in die Kneipe. Spät kam er mit vier Flaschen zurück. "Die Wirtin steht am Tresen und heult", berichtete er. "Es gibt Freibier. Die Mauer ist auf."

Bald stand Poppe bei den Feiernden auf der Mauer, am frühen Morgen fand sie sich in einer Kneipe im Westen wieder. Da durchfuhr sie für einen Augenblick Angst. Sie hatte nicht mal einen Ausweis dabei. Was, wenn sie nicht zurück konnte zu ihren Kindern?

"Die Leute wollten diesen Staat nicht mehr"

Sie konnte am nächsten Morgen ihre Kinder für die Schule wecken. Aber Ruhe kehrte nicht ein. Am runden Tisch mussten sie bald unter Hochdruck Entscheidungen treffen, "für die wir nicht die Kompetenz hatten." Im Frühjahr 1990 merkten die Bürgerrechtler, dass sie vor den ersten freien Wahlen an den Rand gerieten. "Die Leute sagten uns: Ihr seid sympathisch. Aber die anderen verstehen was von Wirtschaft."

Die CDU gewann die Wahlen im März, die Bürgerrechtler blieben unter fünf Prozent. Oft wird ihnen deshalb Bitterkeit unterstellt. Ja, sie wollten manches anders: "Ich denke", sagt Poppe, "dass die Wiedervereinigung trotz des Zeitdrucks hätte anders laufen können." Dass sich im Osten alles ändern sollte und im Westen nichts, hätten manche als Demütigung empfunden. Aber, bitter? So sieht sie die Bürgerrechtler nicht. "Wir haben für Demokratie und Freiheit gekämpft. Was erreicht wurde, das wollten wir."

Rio Reiser bringt es auf den Punkt

Im Oktober 1988 gab Rio Reiser ein Konzert in der Seelenbinder-Halle in Ostberlin. Vor 6000 Zuhörern spielte der Sänger, der im Westen mit der Band Ton Steine Scherben berühmt geworden war, kurz vor der Zugabe den Song "Der Traum ist aus". Das Lied gipfelt in der Frage, ob es ein Land gibt, in dem der Traum von einer besseren Welt Wirklichkeit wird.

"Dieses Land ist es nicht", lautet die Antwort. Als Reiser die Zeile sang, brüllte die Halle voller Trotz und Aufbruchstimmung mit. Jes Möller war dabei, es ist ein Schlüsselmoment für ihn. Dieses Land ist es nicht. Beim Blick zurück spricht er den Satz nach wie eine Überschrift über sein erstes Leben. "Die Leute wollten diesen Staat nicht mehr."

Einen Staat, der dem Betriebsleiter des Potsdamer VEB Grünanlagen zusetzte, weil der gern das Angebot von Möller und seinen Freunden angenommen hatte, in Neubaugebieten Bäume zu pflanzen. Ein Land, das brave Umweltaktivisten verfolgte. Die Stasi verhinderte sein Biologie-Studium.

"Man wusste nie, wie es ausgeht."

Er verdingte sich erst als Gärtner im Park Sanssouci, flüchtete in ein Theologie-Studium. Im Herbst 1989 trieb auch Möller vor allem Politik um. Er brachte aus dem Westen stammenden Bücher bei Freunden unter, damit die Stasi sie nicht einziehen konnte, falls er bei einer Demo verhaftet würde. "Man wusste nie, wie es ausgeht."

Dann kam die Meldung, die ihn elektrisierte. In Schwante hatte sich die Ost-SPD gegründet. Die offene Herausforderung für die Staatspartei SED sah er als richtigen Weg. Er nahm den Aufbau in Potsdam in die Hand. "Wir brauchten politische Strukturen. Es kam darauf an, alles unumkehrbar zu machen."

Zwischen Gesetz und Abenteuer

Die Opposition musste aufpassen, dass die SED ihr nicht mit kleinen Zugeständnissen den Schwung nahm. "Viele haben erst am 3. Oktober 1990 sicher geglaubt, dass nichts mehr umkehrbar ist." Im März zog er in die erste frei gewählte Volkskammer ein und erlebte eines der abenteuerlichsten Parlamente der Geschichte.

Zwischen ausufernden Geschäftsordnungsdebatten wickelten die Parlaments-Novizen den Staat ab. Nicht nur mit Gesetzen. Eines Tages wurde dem Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung der Stasi eine Liste mit Namen von Offizieren zugespielt, die insgeheim im Einsatz waren, etwa in Gefängnissen.

Der Ausschuss nahm die Sache in die Hand. Jeder fuhr mit einer Liste los, um die Vorgesetzten der Stasi-Offiziere über deren Doppelleben zu informieren. Die Mission wäre beinahe an seinem brüchigen Lada gescheitert. "Auf dem Weg nach Brandenburg an der Havel halfen sowjetische Soldaten, ihn wieder flottzumachen."

Möllers Kopf ist voll von Geschichten aus einer Zeit, in der westdeutsche Abgeordnete ihm aus tiefer Überzeugung weismachen wollten, dass die Einheit durch die Zuwachsraten beim Wirtschaftswachstum bezahlt würde. Man würde, meinten sie, viel sparen, etwa weil es die Steuererleichterung für Ostpakete nicht mehr geben würde.

Im Vordergrund steht die Erinnerung an die Besonnenheit, mit der die Volkskammer das Chaos in geordnete Bahnen führte. "Am 3. Oktober war", sagt er, "die Mission erledigt." Er schrieb sich für ein Jura-Studium ein.

"Das Beste an der DDR war ihr Untergang"

Beate Mihály wollte nie Politik machen. Aber an diesem Abend im Oktober 1989 in Dresden stand sie mitten drin. Sie war eine leidenschaftliche Erzieherin, die sich herausnahm, ihre Meinung zu sagen. Als in Dresden demonstriert wurde, ging sie mit, jeden Tag nach dem Dienst.

Die Polizei setzte Knüppel ein. Mihály versteckte sich in Hausfluren, aber gab nicht auf. Als alles zu eskalieren drohte, nahm der SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer ein Gesprächsangebot an. Zwanzig Demonstranten sollten ins Rathaus kommen. Die Gruppe entstand zufällig, die forsche Beate Mihály wurde von Umstehenden gedrängt: "Nu gehnse, gehnse vor, machense."

Sie wird nie vergessen, wie sie sich hinterher vor die Polizisten stellte, die mit ihren Schlagstöcken und Schilden in der Prager Straße im Dresdner Zentrum standen, vor denen sie vorher so viel Angst gehabt hatte. "Ist vorbei jetzt", sagte sie ihnen. "Ihr könnt nach Hause gehen." Sie fühlte sich befugt. "Das war die Euphorie, dass wir ein Gespräch erreicht hatten. Ich hatte solche Sorge, dass geschossen wird."

Die Gruppe der 20 führte Dresden in den folgenden Monaten in die Demokratie. Aus ihr ging der erste wieder frei gewählte Bürgermeister hervor; auch Arnold Vaatz, später prägende Kraft der sächsischen CDU; Steffen Heitmann war dabei, der spätere Justizminister, der beinahe Bundespräsident geworden wäre.

"Das Baby DDR hatte laufen gelernt"

Beate Mihály beriet bis zum Ende mit. Aber in eine Partei wollte sie nicht. "Und das Ziel war erreicht", sagt sie, "das Baby DDR hatte laufen gelernt." Zu Hause warteten zwei pubertierende Töchter. "Die brauchten mich. So viele Kinder sind damals abgedriftet."

1994 verlor sie ihren Arbeitsplatz. Sie redet nicht gern über die Arbeitslosigkeit, lieber über ihre ehrenamtliche Arbeit. Mihály kümmert sich um Kinder in Problemfamilien. Sie kennt mehr als genug Geschichten von Familien, die jeden Halt verloren haben. "Es gibt so viele verwahrloste Kinder. Das hat es früher nicht gegeben."

Aus ihrem Schicksal ließe sich mit leichter Hand die Geschichte einer mutigen Frau schreiben, die den alten Staat mit abschaffte und an der Härte des neuen verzweifelt. Aber darin würde sie sich nicht wiederfinden. "Ja, wir hatten auch gute Dinge. Unsere Kinderbetreuung war besser", sagt sie. "Aber das Beste an der DDR war ihr Untergang."

Im Gespräch springt sie hin und her zwischen der Erinnerung, die ihr viel bedeutet, und Gedanken an Kinder, die ein Federbett brauchen. Es gebe eben, so zieht sie ihr kleines Fazit, immer etwas, wofür man kämpfen müsse.

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