20 Jahre Mauerfall:Diplomatie in der Grauzone

Täuschen und Tricksen: Die USA und Deutschland ließen Russland Anfang 1990 in dem Glauben, nach der Wiedervereinigung werde die Nato nicht nach Osten erweitert.

Mary E. Sarotte

Mary Elise Sarotte ist Autorin des Buches "1989: The Struggle to Create Post-Cold War Europe" und Professorin für Zeitgeschichte an der University of Southern California in Los Angeles. Sie ist zudem Mitglied des Council on Foreign Relations und derzeit Bosch-Fellow an der American Academy Berlin.

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Diffizile Entscheidungen am rustikalen Holztisch: Hans-Dietrich Genscher, Michail Gorbatschow und Helmut Kohl (von links) diskutieren im Juli 1990 die Modalitäten der deutschen Wiedervereinigung.

(Foto: Foto: dpa)

Übersetzung: Susanne Klaiber

Vor zwanzig Jahren brach die Ordnung des Kalten Krieges in sich zusammen. Heute erinnert man sich vor allem an den Triumph über die Unterdrückung. Aber der Jahrestag wirft auch Schatten über die Beziehungen der Staaten zueinander.

Die russische Führung behauptet, die Sowjetunion habe die Wiedervereinigung erlaubt - und als Gegenleistung den USA das Versprechen abgenommen, die Nato nicht zu erweitern. Die USA hätten dieses Versprechen gebrochen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte noch in diesem Jahr, dass am Ende des Kalten Krieges eine "politische Verpflichtung" eingegangen worden sei, die Nato nicht zu erweitern. Leider habe es sich nur um mündliche Zusagen gehandelt, "aber sehr feste mündliche Zusagen".

Mit dieser Sicht steht Lawrow nicht allein. Der ehemalige US-Botschafter in der Sowjetunion, Jack Matlock, zum Beispiel sagt, dass der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow die "eindeutige Zusage" bekommen habe, "dass die Nato-Grenzen nicht nach Osten verschoben würden, wenn Deutschland sich vereinigen und in der Nato bleiben würde".

Der Sicherheitsexperte George Friedman analysiert, dass der damalige US-Präsident George H. W. Bush sein Versprechen gebrochen habe und Russland so durch den Westen "eingekreist" worden sei. Das sei der eigentliche Grund dafür, warum Moskau sich für eine Militäraktion gegen das potentielle Nato-Mitglied Georgien im Jahr 2008 entschieden habe. Mitglieder der George H. W. Bush-Regierung und sowohl ihre demokratischen als auch republikanischen Nachfolger behaupteten hingegen, es habe gar keine solche Abmachung gegeben.

Kurz, die Sache ist für beide Seiten zu einer Glaubensfrage geworden. Tatsächlich aber ist es ein historisches Problem, das anhand von Primärquellen geklärt werden muss - etwa mit Dokumenten aus den Sammlungen Bushs, Gorbatschows, des deutschen Außenministers Hans Dietrich Genscher, des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des damaligen US-Außenministers James Baker.

Diese Papiere bestätigen, dass die Verhandlungen über die Nato im Mittelpunkt der internationalen Verhandlungen über die Vereinigung standen. Die Geschichte, die diese Dokumente erzählen, wird keine der beiden Seiten ganz glücklich machen, aber zumindest lässt sich heute ein genaueres Bild zeichnen.

Der entscheidende Monat war der Februar 1990. Damals war schon klar, dass die DDR zusammenbrechen würde. Eine neue Ordnung musste her, und zwar schnell. Bonn und Washington kamen überein, dass diese Ordnung durch eine schnelle Wiedervereinigung hergestellt werden sollte. Die Lösung sollte nicht in einer entmilitarisierten Zone als Brücke zwischen Ost und West liegen, wie sie die ehemaligen osteuropäischen Dissidenten wünschten; auch nicht in einer vagen Vorstellung eines "Europa vom Atlantik bis zum Ural", wie es Gorbatschow wollte.

Lesen Sie weiter, wie Baker und Kohl sich gegen Gorbatschow verbündeten.

"Nicht einen Inch weiter nach Osten"

Das größte Hindernis bei der Umsetzung der Pläne Bonns und Washingtons war die Sowjetunion. Sie hatte etwa 380.000 Soldaten in der DDR stationiert und war wegen Deutschlands bedingungsloser Kapitulation im Jahr 1945 noch immer rechtmäßige Besatzungsmacht. Was würde Moskau also für eine Zustimmung zur Wiedervereinigung fordern?

Um das herauszufinden, reisten Außenminister Baker und Kohl im Februar nach Moskau. Die beiden haben sich in Russland nicht getroffen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie sich gegen Gorbatschow verbündeten. Tatsächlich aber berieten sie sich ständig.

Subtile Unterschiede in der Wortwahl

Das Treffen Bakers mit Gorbatschow am 9. Februar 1990 ist berüchtigt. Dabei wurde das Versprechen abgegeben, sagen die Russen noch heute. In einer Notiz an Kohl hielt Baker fest, was er zu Gorbatschow gesagt hatte: "Wäre Ihnen ein vereintes Deutschland außerhalb der Nato lieber, unabhängig und ohne US-Streitkräfte, oder ein vereintes Deutschland, das an die Nato gebunden ist, und dazu die Zusage, dass der Nato-Einflussbereich nicht einen Inch weiter nach Osten ausgedehnt würde von der jetzigen Position?" Gorbatschow soll geantwortet haben, dass "jede Ausweitung der Nato-Zone inakzeptabel wäre".

Um die Bedeutung der Worte Bakers zu verstehen, muss man die Umstände des Treffens kennen. Für den erfahrenen Anwalt und Verhandlungsführer Baker war das Gespräch nur eines von vielen. Er stellte theoretische Möglichkeiten vor. Hätte Gorbatschow schon hier ein Abkommen treffen wollen, hätte er vielleicht eine Zusage bekommen, die aber auch die Nato hätte billigen müssen. So aber blieb die Sache offen. Allerdings scheint Gorbatschow über Bakers Worte nachgedacht zu haben und war wohl bei seinem Treffen mit Kohl am Tag danach zugänglicher für eine Abmachung.

Noch während Baker in Moskau war, wurden die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats der USA (NSC) immer besorgter über die Folgen von Bakers Konzept, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Philip Zelikow, der zu dieser Zeit für den NSC arbeitete, sagt, dass er und seine Vorgesetzten versuchten, den Schaden zu begrenzen, indem sie eine andere Formulierung in die Verhandlungen einbrachten.

Noch während Baker in Moskau war, formulierte der NSC einen Brief, der am 9. Februar mit Bushs Unterschrift an Kohl geschickt wurde. Er enthielt eine Formulierung, die sich in subtiler aber signifikanter Weise von Bakers Worten unterschied. Statt zu versprechen, dass sich das Nato-Gebiet nicht nach Osten verschieben würde, sprach Bush davon, der ehemaligen DDR einen "speziellen militärischen Status" zu verleihen. Mit anderen Worten: Die Nato sollte expandieren und Ostdeutschland darin eine Sonderstellung bekommen.

Als Kohl zu Gorbatschow kam, wusste er um die verschiedenen Positionen in der amerikanischen Regierung - und entschied sich für Baker, nicht für Bush. Der Bundeskanzler erklärte Gorbatschow, dass er Deutschland vereinen und in die Nato eingliedern wolle, merkte aber an, natürlich könne die Nato ihr Gebiet nicht auf das heutige Gebiet der DDR ausdehnen.

Lesen Sie weiter, welche Fehler Gorbatschow machte, als er dem Gentlemen's Agreement zustimmte.

"Zur Hölle damit!"

Es lag eigentlich nicht in Kohls Macht, Versprechen im Namen der Nato abzugeben, aber er suggerierte, dass der Einfluss seines Landes in dieser Frage ausreichend sei. Außenminister Genscher sprach für seine Landsleute, als er am nächsten Tag zu seinem Kollegen Schewardnadse sagte, für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen.

Nachdem Gorbatschow Kohl angehört hatte, stimmte er der internen Vereinigung zu, das heißt, dem wirtschaftlichen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten. Kohl beeilte sich, eine Pressekonferenz einzuberufen, um Gorbatschow in seiner Entscheidung festzunageln.

Gorbatschow hatte sich also mit einem Gentlemen's Agreement zufriedengegeben und versäumte, drei wichtige Punkte zu klären. Erstens sprach Kohl für Westdeutschland, nicht für die USA oder für die Nato. Zweitens bekam Gorbatschow nichts Schriftliches. Drittens war er nicht aufmerksam genug, als klar wurde, dass die Umstände des Deals sich änderten.

Die erste Veränderung betraf die Nato. Am 20. Februar redete ein ungarischer Politiker erstmals öffentlich über die Integration seines Landes in die Nato. Mit anderen Worten: Er sprach von der Möglichkeit einer Expansion der Nato über Deutschlands Grenzen hinaus. Erst am 6. Februar hatte Genscher mit seinem britischen Kollegen Douglas Hurd ebenfalls über Ungarn diskutiert und spekuliert, ob Moskau nicht eine Garantie brauche, dass sich die Nato nicht erweitere.

Genscher sagte, wichtig sei insbesondere die Erklärung, dass die Nato nicht beabsichtige, ihr Territorium nach Osten auszudehnen. Eine solche Erklärung dürfe sich nicht nur auf die DDR beziehen, sondern müsse genereller Art sein. Beispielsweise brauche die SU (Sowjetunion) auch die Sicherheit, dass Ungarn bei einem Regierungswechsel nicht Teil des westlichen Bündnisses werde.

Haben die USA Russland betrogen?

Anfang März 1990 enthielt ein internes Papier des US-Außenministeriums eine Abhandlung über die mögliche Erweiterung der Allianz um Ungarn und Polen. Schließlich gab es im Juli 1990 Spekulationen, Osteuropa mit einer allumfassenden Militärstruktur auszustatten. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Idee zu der Zeit sehr umstritten war. Klar ist aber: Das Nachdenken über eine Erweiterung hatte begonnen.

Die zweite Veränderung, die Gorbatschow zu wenig beachtete, betraf die Haltung Kohls. Bush überzeugte Kohl am 24. und 25. Februar in Camp David, dass sie Gorbatschow nicht entgegenkommen müssten. "Zur Hölle damit! Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht", sagte der Präsident. Kohl schloss sich dem an. Gorbatschow würde sich schon an ein vereintes Deutschland in der Nato mit - wenn überhaupt - einem Sonderstatus für den Osten gewöhnen. Natürlich würde er eine Gegenleistung dafür haben wollen.

Kohl bot Gorbatschow später Kredite und Zuschüsse in Milliardenhöhe an, und Moskau unterzeichnete im September 1990 eine Vereinbarung, die Deutschland seine volle Souveränität zurückgab und dem Land erlaubte, seine Militärpartner auszusuchen - sprich die Nato -, aber mit Einschränkungen für das ehemalige Ostdeutschland.

Haben die USA Russland also am Ende des Kalten Krieges betrogen? Die kurze Antwort lautet Nein. Bei den Verhandlungen kam nichts rechtlich Bindendes heraus, das eine Nato-Expansion verboten hätte. Im Gegenteil: Gorbatschow unterschrieb Vereinbarungen, die der Nato erlaubten, sich über das ehemalige Ostdeutschland hinaus auszubreiten.

Moskau steht ohne Beweise da

Eine längere Antwort auf diese Frage zeigt indes, dass es zwar keine juristische, aber eine informelle Grauzone gibt. Der Amerikaner Baker hat mit Gorbatschow über die Zukunft der Nato spekuliert. Aber es war der Deutsche Kohl, der ein wichtiges Zugeständnis von dem Sowjetpolitiker auf Basis von Bakers Spekulationen errang - obwohl er wusste, dass sich die Amerikaner untereinander nicht einig waren.

Später passte Kohl seine Formulierung an, um dem Weißen Haus Genüge zu leisten. Aber Gorbatschow verstand nicht, was auf dem Spiel stand, hatte einfach zu viel um die Ohren, und versäumte eine schriftliche Festlegung. Seine Bemühungen im Sommer und Herbst 1990, einen Kompromiss zu finden, scheiterten. Nachdem er der internen Vereinigung schon zugestimmt hatte, war sein Trumpf verloren. So steht die russische Führung heute ohne offizielle Dokumente da, mit denen Legitimität der Nato-Erweiterung in Frage gestellt werden könnte.

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