Süddeutsche Zeitung

20 Jahre Mauerfall:Der Ruf der Freiheit

Wo warst du am 9. November 1989? Damals, als der Rand der Welt plötzlich zum Mittelpunkt erklärt wurde? Die Erinnerung einer jungen Journalistin, die damals in Ostberlin stationiert war.

Annette Ramelsberger

Man muss sich nichts vormachen. Es ist ein Abschiebeposten. Nicht gerade Sibirien, aber nahe dran, zumindest aus westdeutscher Sicht. Ostberlin, Hauptstadt der DDR. Das interessiert nicht mehr in Hamburg, in Frankfurt, in Bonn, damals Ende der achtziger Jahre. Dort tut sich nichts. Wer was werden will, der bleibt in Bonn, da wird Politik gemacht, oder er geht nach Paris, Washington. Ostberlin? Das ist was für Kalte Krieger oder für Einheits-Romantiker, die immer noch glauben, dass sich der altersstarre Erich Honecker mal erweichen lässt. Ostberlin - das ist grau, öde, in Beton gegossene Langeweile.

Ich bin 28, nach Meinung meiner Chefs zu jung für die große Politik in Bonn. Aber auch zu ungeduldig, um in der Zentrale der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP) in Frankfurt zu bleiben. Da kann die Frau doch nach Ostberlin gehen. Da wird sie lernen, Geduld zu üben. Da ist alles festgezurrt. Honecker scheint auf ewig im Amt, Egon Krenz für immer sein Kronprinz. Selbst die Perestroika macht um Ostberlin einen Bogen. Alles wie festbetoniert.

Geschichten aus der DDR - die sind in den achtziger Jahren der Garant für verhaltenes Gähnen. Honecker-Exegese, Kreml-Astrologie, das interessiert nicht im Westen. Was sich in der DDR tut, ist etwas für Kenner und Liebhaber - und als es dann spannend wird, spüren die Westdeutschen lange nicht, was es bedeuten könnte.

Es ist Juni 1989, ein Monat nach den vom DDR-Regime gefälschten Kommunalwahlen. Junge Leute drängen sich im Hof der Sophienkirche in Ostberlin, tragen einen schwarz umhüllten Sarg, heben ein Plakat hoch: "Nie genug vom Wahlbetrug." Sie sind auf dem Weg zur SED-Parteizentrale. Lange vor der ersten Montagsdemonstration. Noch sind die Zeiten bleiern, der Widerstand gegen die Staatsgewalt keimt erst zart.

Ein kleiner drahtiger Mann mit stechend hellblauen Augen versucht zu beruhigen. Er habe schon mit der SED-Führung gesprochen. Die würde eine Petition annehmen, wenn der Sarg hier bleibt. Die jungen Leute zögern. Sollen sie nachgeben, den Sarg zurücklassen? Der Mann mit den hellblauen Augen gilt als Anwalt der Opposition: Wolfgang Schnur. Er meint es sicher gut. Doch die jungen Leute hören nicht auf ihn, schultern den Sarg, ziehen damit vor das Tor des Kirchhofs. Wo es plötzlich von Männern mit grauen Windjacken wimmelt. Ein paar Monate später wird bekannt: Schnur steht im Dienst der Stasi.

Ich gehe über die Straße, mache zwei schnelle Bilder: Querformat, Hochformat. Da schießt ein Motorrad auf mich zu, mit heulendem Motor. Es bremst nicht. Ich springe zurück. Der Motorradfahrer schreit Befehle. Ein Windjackenmann reißt mir die Kamera weg, hält mich fest. Jetzt keine Angst zeigen. Ich baue mich auf. "Was erlauben Sie sich? Ich bin akkreditierte Korrespondentin der amerikanischen Nachrichtenagentur AP. Geben Sie mir meine Ausrüstung zurück."

Der Mann ist verwirrt. Er hat mich für eine Demonstrantin gehalten. "Zeigen Sie Ihre Akkreditierung", herrscht er mich an. Und belehrt mich: "Im Operationsgebiet der Volkspolizei ist der Aufenthalt für Korrespondenten verboten." - "Ich sehe keine Volkspolizei", sage ich, "ich sehe nur Männer in Windjacken. Ich werde die amerikanische Botschaft unterrichten und die Ständige Vertretung."

Der Mann auf dem Motorrad dreht ab, ich bekomme meine Kamera zurück, mit Film. Die Männer mit den Windjacken reißen die Demonstranten zu Boden, zerren die Menschen in Busse, fahren sie weg. Ich haste in die Kirche zurück, ins Pfarrbüro, drehe die Wählscheibe, immer wieder, es gibt noch keine Handys. "Stasi schlägt Demonstration für mehr Demokratie in der DDR nieder", melde ich nach West-Berlin. Jetzt erst beginne ich zu zittern. Das Foto von der Demo erscheint am Montag darauf im Spiegel. Große Aufregung löst es nicht aus.

Noch ein paar Monate vorher dachte ich wie viele in meinem Alter: Warum gehen wir nicht lässiger mit der DDR um? Musste man ständig ihre Untaten beschwören? Konnte man die Geschichte nicht mal Geschichte sein lassen? Und jetzt stehe ich hier und meine Knie sind weich. Die Jungs, die den Sarg trugen, sitzen jetzt vermutlich im Stasiknast. Sie haben ihre Zukunft für die Freiheit riskiert. Wir im Westen aber haben diese Menschen abgeschrieben. Genauso wie die deutsche Einheit. Die ist nicht cool, die ist uns fast peinlich.

Die DDR, das ist für mich ein Land, mit dem ich nichts zu tun habe. Keine Verwandtschaft, keine Erinnerungen. Die DDR - das sind für mich und meine Generation die schnarrenden unfreundlichen Grenzer, die in den Bus kommen, wenn die Abiturklasse ihre Pflichtreise nach Berlin macht. Die DDR - das ist Transit. Nicht aussteigen, nicht essen, nicht trinken, nicht pinkeln - von Hof bis Berlin. Die DDR, das ist Pflichtprogramm, Zwangsumtausch, einmal Alex und schnell zurück nach West-Berlin. Wir haben abgeschlossen mit denen da drüben. Sie wollen uns nicht, was sollen wir mit ihnen?

Dann war ich richtig "drüben", als Ost-Korrespondentin, zum ersten Mal im Sommer 1988. Und von da an immer öfter. Am Anfang hielt ich es für Indianerspiele, was ich dort erlebte. Nicht wirklich ernst zu nehmen. Wenn die Ständige Vertretung Bonns in Ostberlin in die ,,Laube'' lud, einen angeblich abhörsicheren Raum, in dem die Botschafter uns die deutsch-deutsche Lage beschrieben, dann wirkte das ziemlich übertrieben. Es fiel auch leicht, über Kollegen zu spotten, die stolz berichteten, wie sie die Verfolger von der Stasi wieder mal abgehängt hatten.

Oder erzählten, wie sie herausgefunden hatten, dass ausgerechnet die Ikone des Sozialismus, Katarina Witt, bei der Eislaufshow "Holiday on Ice'' anheuerte, dem Inbegriff des Kapitalismus. Sieben Millionen West-Mark kassierten die Funktionäre für den Deal. Der Kollege traf sich mit seiner Informantin in der evangelischen Kirche am Gendarmenmarkt, sie saßen gemeinsam in der Kirchenbank und taten so, als beteten sie. Das hört sich für mich nicht sehr gefährlich an, eher sportlich.

Dann gehe ich selbst auf die Pirsch und erlebe: Es ist kein Indianerspiel, es ist ernst. Gemeinsam mit dem Kollegen Karl-Heinz Baum von der Frankfurter Rundschau, der seit 15 Jahren in der DDR arbeitet, treffe ich mich mit einem Informanten. Ein mutiger Mann, so denken wir. Einer, den man schützen muss. Wir stellen das Auto drei Straßen weiter ab. Gehen zu Fuß in den Plattenbau. Wir nehmen Aufgang A, fahren mit dem Lift in den neunten Stock, wechseln rüber in Aufgang C, nehmen die Treppe, runter in den achten Stock. Dann klopfen wir, viermal, das vereinbarte Signal. Wir schlüpfen durch den Türspalt. Es ist heiß, auf den Balkon aber können wir nicht. Niemand darf uns bei ihm sehen.

Später konnten wir nachlesen, wie es war mit uns, in dieser heißen Sommernacht des 25. Juni 1989. Unser Informant war IM, sein Stasi-Name "Wolfer". IM Wolfer sollte seine Tochter auf mich ansetzen, sie war so alt wie ich. "Das Gespräch, an dem vereinbarungsgemäß auch meine Tochter teilnahm, verlief nach gemeinsamen Abendbrot locker und ungezwungen. Wir vermieden es aufgrund der Anwesenheit Baums gezielte Fragen, die wir vorbereitet hatten, an die R. zu stellen", schrieb IM Wolfer drei Tage später an seinen Führungsoffizier. "Die R. macht einen an DDR-Problemen stark interessierten Eindruck", vermerkt der Stasi-Mann. Seine Recherchen über "die R." führten aber nicht sehr weit. "Zur privaten Situation der R. wurde bekannt, dass sie in Westberlin ein möbliertes Zimmer (mit Telefon) bewohnt, zu persönlichen Bindungen wurde nichts bekannt (sie trägt keinen Ehering)."

Er hätte sicher mehr herausgefunden, wenn er noch Zeit gehabt hätte. Als ich Jahre später die Stasi-Unterlagen las, begriff ich: Jene R. war ein Zielobjekt. Sie sollte umsponnen werden mit den Fäden der Stasi. Natürlich wussten wir, dass unser Büro in Ostberlin verwanzt war. Aber wir konnten entkommen, jederzeit, rüber nach West-Berlin. Die Menschen in der DDR konnten das nicht. Diese Menschen aber waren mir ziemlich lang ziemlich egal gewesen.

Man kann alles leichtnehmen, wenn man sich wohl verhält. Solange ich über Kranführerinnen in Warnemünde schreibe, über die Wahl von Schützenkönigen und dass DDR-Frauen den Duft von Bananen in Lippenstiften lieben, habe ich keine Probleme. Ich gewinne das kleine Land hinter der Mauer sogar ein wenig lieb. Es riecht nach Braunkohle, Luft wie in meiner Kindheit, in den sechziger Jahren. Ich lerne, wie Soljanka schmeckt, eine scharf-saure Suppe mit Gurken und Paprika.

Ich entdecke Alleen entlang der Landstraßen, wie es sie auch im Westen einmal gegeben hatte - bevor zum Kahlschlag aufgerufen wurde. Ich quetsche mich in ruckelnde Trabis, finde im Bad eine Sandpapierrolle, die Toilettenpapier sein soll. Ich besuche Menschen ohne Anmeldung und schreibe ihnen Nachrichten auf den Papierstreifen, der an ihrer Eingangstür hängt - es gibt ja nur ganz wenig Telefone. Ich entdecke eine andere Welt. Und ich berichte über die DDR wie über ein fremdes, exotisches Land. Ich will die DDR ja nicht bekämpfen, ich will sie nur beschreiben.

Das geht gut, bis ich nach Görlitz komme. In der Barockstadt ist der Film "Preußens Glanz und Gloria" gedreht worden. Aber die Stadt verfällt. Die Ausfallstraße ist gesperrt, die Fassade eines Hauses ist abgestürzt und liegt mitten auf der Fahrbahn. Seit sechs Monaten schon, erzählen Bürger. Aus den barocken Fassaden wachsen Birken. Meine Reportage heißt: "Ruinen schaffen ohne Waffen." Sie wäre im Westen nicht anders ausgefallen.

Einen Tag später werde ich ins Außenministerium einbestellt. Die Stimmung ist eisig. Feindselig sei diese Berichterstattung, unausgewogen. Ich hätte die Aufbauleistungen im DDR-Wohnungsbau völlig außer Acht gelassen. Man werde mir keine Reisegenehmigung mehr erteilen. Ich darf Ostberlin nicht mehr verlassen.

Ich übe mich in Galgenhumor. Schreibe eine Reportage über den telefonischen Alltag zwischen Ost und West, über die fehlenden Verbindungen, mit einem ironisch gemeinten Anfang: "Sollte die Mauer dereinst fallen, wird es der Bundeskanzler aus einer Telefonzelle in West-Berlin erfahren." - Die Leute aus der Ständigen Vertretung würden einfach schnell rüberfahren, weil aus dem Osten sowieso keiner durchkommt. Alle halten das mit dem Mauerfall für einen gelungenen Scherz, keiner kann sich vorstellen, dass es sechs Wochen später so weit ist.

Im Oktober demonstrieren die Menschen zu Tausenden in Leipzig. "Wir sind das Volk", rufen die Bürgerrechtler. "Wir sind ein Volk", rufen die anderen. Und ich kann die Wut der Bürgerrechtler verstehen, die nicht Bananen wollen, sondern Freiheit, die ihr Land verbessern wollen und nicht vereinen. Sie haben nicht mehr viel Zeit.

Am 9. November hält Politbüro-Sprecher Günter Schabowski eine seiner Pressekonferenzen. Wir haben uns aufgeteilt. Ein Kollege geht zu Schabowski in Ost-Berlin, die anderen verfolgen seine Worte vom West-Berliner Büro aus im DDR-Fernsehen. Da können wir schneller reagieren. Es ist 18.53 Uhr und Schabowski sagt den Satz. "Nach meiner Kenntnis, sofort, unverzüglich." Wir sind zu dritt und sehen uns an.

Drei Journalisten, die entscheiden müssen, was das bedeutet. Neues Reisegesetz? Ja. Ansturm auf die Passbehörden der DDR? Ja, auch. Aber eigentlich? Eigentlich kann das nur heißen: Die DDR macht die Grenze auf. Und so schicken wir die Eilmeldung raus: "DDR öffnet Grenzen." Wir versuchen zu verstehen, was niemand versteht: "DDR öffnet Grenzen." Wir diskutieren noch, wie wir uns verhalten sollen. Der DDR-Bürger steht früh auf, die Ämter öffnen früher als im Westen. Sollen wir bald ins Bett gehen, um früh um sechs Uhr fit zu sein?

Da ruft ein Fotograf an: Die Ersten kommen über die Bornholmer Straße. Wir rasen raus. In der Sonnenallee tanzen die Menschen schon auf dem Zollhäuschen. Sie reißen dem Grenzer die Mütze vom Kopf. Eine Frau wankt über den Grenzübergang, sagt atemlos: "Guten Abend, ich werd' verrückt." Um drei Uhr morgens ist der Kurfürstendamm voller Trabis. Um vier Uhr stehen wir auf der Mauer am Brandenburger Tor. Die Menschen schlendern durchs Tor, die Grenztruppen schauen zu.

Es ist keine fünf Monate her, dass chinesische Panzer den Aufstand für mehr Demokratie niederrollten. Keine sechs Monate, dass die Stasi die Demonstranten vor der Sophienkirche wegfing. Daran denke ich, als ich hier auf der Mauer stehe. Nun kurvt ein Radfahrer durchs Brandenburger Tor und ruft: "Ist ja geil hier."

In dieser Nacht ist alles nur Freude. Keiner redet von Solidarbeitrag, keiner von Abwicklung, keiner von Treuhand, keiner von den Milliarden, die in die marode DDR gesteckt werden. Nie wieder gab es eine solche Nacht der Euphorie. Die, die sie wie ich miterlebt haben, zehren auch 20 Jahre danach noch davon. Wenn ich Schabowski reden höre, bekomme ich immer wieder Gänsehaut. Diese Nacht ist so viel mehr als alles, was danach kam.

Mehr als der ungläubige Blick Honeckers, als ich in seinem Vorgarten in Wandlitz stehe und er durch die Gardine späht. Mehr als der Sturm auf die Stasi, als das Volk wutentbrannt die Kassen plündert und sogar Zimmerpalmen wegschleppt. Mehr als die Öffnung des Brandenburger Tors, die Einführung der D-Mark, mehr als die 2-plus-4-Verhandlungen, bei denen die Einheit Deutschlands beschlossen wurde, mit den vier alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Und viel mehr als der Tag, als die deutsche Einheit unterzeichnet wurde.

Wenn sich die alten Korrespondenten treffen, die damals aus der DDR berichteten, ist auch heute noch die erste Frage: Wo warst du am 9. November? An jenem 9. November, als der Abschiebeposten in Ostberlin plötzlich zum Nabel der Welt wurde. Und für eine Reporterin der beste Platz, den sie sich vorstellen konnte.

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Quelle:
SZ vom 7./8.11.2009/mati
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