Zehn Jahre 9/11:Der Kriege müde

Tausende Soldaten sind gestorben, die Streitkräfte sind überlastet, die Kosten so exorbitant, dass sogar die Ressourcen des reichsten Landes der Welt zu erschöpfen drohen: Nach zehn Jahren permanentem Kriegszustand erkennen die Amerikaner, dass der Preis zu hoch ist.

Reymer Klüver

Eine Weisheit aus Tolkiens "Herr der Ringe" hatte er sich in seine linke Armbeuge tätowieren lassen. Als habe er sich so wappnen wollen gegen die Schatten, die seine Seele bedrängten: "Nicht jeder Verirrte verliert sich." Doch am Ende war Clay Hunt verloren, er hatte keine Chance.

Zwei lange Jahre hatte der Kriegsveteran mit den Dämonen in seinem Inneren gerungen, sich aufgebäumt gegen Albträume und Flashbacks nach Einsätzen in Irak und in Afghanistan. Dann hat er kapituliert. Am 31. März nahm sich Clay Hunt in seinem kleinen Apartment in Sugar Land, einem Vorort der texanischen Ölmetropole Houston, das Leben. 28 Jahre alt ist er geworden.

Für mich ist Clay ein Opfer dieser Kriege", sagt seine tapfere Mutter, Susan Selke, "nur dass er hier starb und nicht irgendwo in der Fremde. Aber er starb wegen der Kriege." Selke kämpft für eine bessere Betreuung traumatisierter amerikanischer Kriegsheimkehrer - so wie Clay Hunt einer war.

Der Stabsgefreite hatte erleben müssen, wie bei seinen zwei Kriegseinsätzen der Reihe nach vier seiner engsten Kameraden erschossen oder von Granaten zerfetzt wurden. Ihn selbst verfehlte die Kugel eines Scharfschützen nur um Haaresbreite. Nach der Heimkehr plagten Hunt nicht nur die grausigen Erinnerungen, sondern auch Selbstvorwürfe, dass er überlebt hatte - und seine Kumpel nicht.

Viele Veteranen der jüngsten Feldzüge Amerikas leiden wie Clay unter posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), die ihr Leben in der Heimat zur Hölle machen. Die Zahl der Selbstmorde ist alarmierend hoch: 18 Kriegsheimkehrer nehmen sich Tag für Tag in den USA das Leben, so die offiziellen Statistiken (das sind in einem Jahr mehr als alle US-Kriegstoten in Afghanistan und Irak zusammen).

Einer von fünf Selbstmördern in Amerika ist ein Veteran. Doch die nach oben schnellende Suizidrate ist nur einer von vielen bedrückenden Indikatoren, die dokumentieren, wie mächtig die Kriege an den Vereinigten Staaten zehren - menschlich, finanziell und am Gewebe der amerikanischen Gesellschaft.

Die US-Streitkräfte sind hoffnungslos überlastet

Seit einem Jahrzehnt, seit 9/11, befinden sich die USA in permanentem Kriegszustand. Auch wenn man das auf den ersten Blick nicht wahrnehmen wird auf den staugeplagten Autobahnen um Houston, an den überfüllten Sandstränden in Kaliforniens Santa Monica oder beim Blick auf die millionenschweren Glitzerauslagen der Prachtläden an New Yorks Fifth Avenue.

Doch die Kosten des Kriegs gegen den Terror und des damit gerechtfertigten Feldzugs in Irak sind exorbitant - so enorm, dass sie die Ressourcen selbst dieses so reichen Landes zu erschöpfen drohen. Außenpolitisch steht die waffenstarrende Weltmacht schlechter da als zu Beginn des Krieges gegen den Terror. Die US-Streitkräfte sind hoffnungslos überlastet.

Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wird global als Beginn einer neuen Ära wahrgenommen: das Ende des amerikanischen Jahrhunderts. Und im Inneren haben sich die USA seit 9/11 so tiefgreifend und so nachhaltig verändert, wie seit den großen Umbrüchen in der Ära von Vietnam und Bürgerrechtsbewegung nicht mehr - und das nicht zum Besseren.

Endloskrieg gegen den Terror

Das menschliche Leid, das der Endloskrieg gegen den Terror über Hunderttausende Amerikaner gebracht hat, lässt sich nur ahnen, wenn man die Statistiken liest und die Doppelseiten mit den Fotos der Gefallenen betrachtet, die die großen Zeitungen des Landes regelmäßig veröffentlichen. 6100 tote Soldaten hat Amerika seit 2001 zu beklagen, fast 4500 von ihnen in Irak.

Inzwischen sind dort nur noch 50.000 Soldaten stationiert. 100.000 Mann kämpfen hingegen in Afghanistan. Dort klettern die Opferzahlen konstant. Afghanistan und Irak sind lange schon nicht mehr allein George W. Bushs Kriege: Seit seinem Amtsantritt im Januar 2009 hat Präsident Barack Obama bereits mehr als tausend Kondolenzbriefe an die Familien gefallener US-Soldaten unterzeichnen müssen.

Fast 45.000 Soldaten wurden seit 9/11 verwundet, nicht wenige verstümmelt in den Bombenattacken auf Militärfahrzeuge: Beinahe die Hälfte der Verwundeten wird medizinische Betreuung für den Rest ihres Lebens benötigen. Und einschlägigen Studien zufolge leiden bis zu 20 Prozent aller inzwischen weit mehr als zwei Millionen Kriegsheimkehrer an PTBS - eine konservative Schätzung.

In jedem Fall ist die VA, die Veteranenverwaltung, mit der Betreuung Zehntausender körperlich und Hunderttausender seelisch Versehrter heillos überfordert. "Da kämpft man für sein Land und kommt nach Hause und muss dann gegen das eigene Land kämpfen für die Versorgung, die einem versprochen wurde", hatte Clay Hunt der Los Angeles Times ein knappes Jahr vor seinem Freitod geklagt, "ich kann auf meinem Blackberry den Weg der Pizza verfolgen, die ich bei Pizza Hut bestellt habe, aber die VA kann meinen Versehrtenantrag für geschlagene vier Monate nicht finden."

Mehr als drei Billionen Dollar

Auch finanziell sind die Kriege für Amerika ein Desaster. Der Congressional Research Service, der unabhängige wissenschaftliche Dienst des US-Parlaments, beziffert die direkten Ausgaben fürs Militär bisher auf nicht weniger als 1,3 Billionen Dollar. 800 Milliarden davon wurden in den Irak-Krieg gesteckt, gut 440 Milliarden kostete die Operation in Afghanistan, der Rest wurde für den Ausbau von Stützpunkten rund um den Globus sowie für Hilfsprogramme in Afghanistan und Irak ausgegeben.

Selbst wenn die USA, wie von Obama angekündigt, bis Ende des Jahres aus Irak und 2014 aus Afghanistan abziehen, werden noch in beiden Ländern Truppen stationiert bleiben. Der Congressional Research Service geht von 20.000 Soldaten pro Land aus. All das eingerechnet dürften die Kriege Amerika im Laufe dieses Jahrzehnts noch einmal eine halbe Billion Dollar kosten. Damit wäre nur der Zweite Weltkrieg noch teurer gewesen. Nach heutigem Geldwert kostete der Kampf gegen Hitler-Deutschland und Japan gut vier Billionen Dollar.

Die wahren Kosten des militärischen Engagements seit 9/11 dürften sogar noch höher liegen. Der Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz taxiert die Ausgaben auf mittlerweile mehr als drei Billionen Dollar. Forscher der Brown University prognostizieren sogar, dass die Kriegskosten sich am Ende auf etwa 3,7 Billionen Dollar belaufen werden - Zinszahlungen noch nicht mit einbezogen.

"Ernüchternde Opportunitätskosten"

Rückführung im Irak gefallener US-Soldaten in die USA, 2004

6100 tote Soldaten hat Amerika seit 2001 zu beklagen, fast 4500 von ihnen in Irak.

(Foto: AFP)

Hinzu kommt, was Stiglitz, "ernüchternde Opportunitätskosten" nennt: "Wären wir zum Beispiel ohne die Irak-Invasion noch immer in Afghanistan? Wären die Ölpreise ohne den Krieg in Irak auch so in die Höhe geschnellt? Wäre die Verschuldung so hoch? Wäre die Wirtschaftskrise so heftig ausgefallen?"

Alle Fragen dürften mit einem klaren Nein beantwortet werden, so der Ökonom. Eine Truppenverstärkung, wie sie schließlich Präsident Obama im Dezember 2009 anordnete, hätte sechs Jahre zuvor wohl das Wiedererstarken der Taliban verhindert. Und ohne das Irak-Abenteuer wäre der Ölpreis heute mindestens zehn Dollar niedriger, meint Stiglitz.

Zwischen 2003 und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 stiegen die US-Schulden von 6,4 auf zehn Billionen Dollar. Fast eine Billion davon gehen nach Stiglitz' Einschätzung direkt auf das Kriegskonto. Und schließlich habe der Krieg gegen den Terror indirekt auch zur Krise beigetragen, weil die US-Regierung unter Präsident Bush sich zu einer "desaströs lockeren Geld- und Regulierungspolitk" veranlasst sah, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. "Ohne diesen Krieg ginge es unser Wirtschaft heute besser."

Konservative Vordenker versuchen dagegen die finanzielle Bürde kleinzureden, indem sie die Kriegskosten in Relation zu anderen Staatsausgaben setzen. So führte das konservative Online-Magazin American Thinker aus, dass die Kosten für den Irakkrieg zwischen 2003 und 2008 noch um 20 Milliarden Dollar unter den Ausgaben der US-Regierung für Bildung im selben Zeitraum lagen und nicht einmal ein Viertel der Aufwendungen für Medicare, die Krankenversicherung für Rentner, ausmachten.

Womit sie natürlich insinuieren, dass man lieber dort sparen könnte, anstatt über die Kriegskosten zu jammern. Allerdings unterlassen sie es zu erwähnen, dass die Kriegsausgaben eben zusätzlich anfallen und dass Washington derlei Ausgaben in der Vergangenheit stets durch zusätzliche Steuern finanziert hat.

Krieg aus der Portokasse

Präsident Bush glaubte dagegen, den Krieg gegen den Terror sozusagen aus der Portokasse begleichen zu können. Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 empfahl er seinen Landsleuten, shoppen zu gehen - einfach mit der Kreditkarte.

Bush machte mit dem Krieg nichts anderes. Er finanzierte ihn auf Pump, wenn man so will, mit der großen nationalen Kreditkarte. Dabei hatte er ohne Zweifel das politische Schicksal seines Vaters vor Augen, der Steuererhöhungen zum Teil mit den Ausgaben für den ersten Golfkrieg 1991 gerechtfertigt hatte - und prompt abgewählt wurde.

Indes hatten Präsidenten im vergangenen Jahrhundert den Bürgern in Kriegszeiten immer finanzielle Opfer abverlangt: Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zahlten drei Prozent aller Amerikaner Einkommenssteuer, an dessen Ende 30 Prozent. Zur Finanzierung des Koreakriegs wurden die Steuern noch einmal erhöht. Und 1968 gab es einen Vietnam-Zuschlag von zehn Prozent. Doch heute wäre an eine Kriegssteuer angesichts des politischen Klimas in Washington nicht zu denken: Selbst wenn er sie wollte, könnte sie Obama gegen den Widerstand der Republikaner nicht durchsetzen.

Erosion der bürgerlichen Freiheiten

Und noch einen Preis hat Obama für die von seinem Vorgänger begonnenen Endloskriege zahlen müssen. "Kriege ersticken große Reformbewegungen", hatte ihm bereits im Sommer 2009 der Präsidentschafts-Historiker Robert Dallek bei einem Treffen im Weißen Haus prophezeit.

Der Erste Weltkrieg beendete die Ära der progressiven, der linken Reformbewegung. Mit dem sozialen Umbau der US-Gesellschaft, den Franklin D. Roosevelt initiiert hatte, war es nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei. Der Vietnamkrieg begrub die grandiose wohlfahrtsstaatliche Vision der Great Society Lyndon B. Johnsons unter sich.

Und auch von Obamas Reformvorhaben ist nur ein Rumpfprogramm übrig: Die Gesundheitsreform wurde dezimiert, die Regulierung der Finanzmärkte blieb hinter den Erwartungen zurück, und beim Klimaschutz passierte praktisch gar nichts.

Und dann ist da noch ein weiterer, vielleicht der folgenreichste Preis, den Amerika für den Endloskrieg zu entrichten hat: Im Namen der nationalen Sicherheit leistete die Regierung Bush einer schleichenden Erosion der bürgerlichen Freiheiten Vorschub - und das ausgerechnet in dem Land, das sich als Gralshüter eben dieser Freiheiten weltweit sieht.

Es begann mit den verschärften Kontrollen an Flughäfen, für die anfangs noch jeder Verständnis gehabt haben dürfte. Doch obwohl Zweifel an der Effektivität dieser Kontrollen wuchsen, wurden sie weiter verschärft. Ein Antiterrorgesetz, der Patriot Act, wurde durch den Kongress gepeitscht. Es gab den Ermittlungsbehörden in den USA bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Überwachung von Telefonaten, E-Mails und Bankgeschäften.

Bush ordnete darüber hinaus eine flächendeckende Abhöraktion für Auslandsgespräche an, zunächst ohne gesetzliche Grundlage. Telefongesellschaften wurden unter Druck gesetzt, Gesprächsdaten herauszugeben - ebenfalls ohne Rechtsgrundlage. Das hat sich geändert. Alles wird von einem Gericht kontrolliert. Doch ist das ein Geheimgericht, das erst nach erheblichem politischen Druck eingerichtet wurde.

Folter als "verschärfte Verhörtechnik"

Die Grundfreiheiten der amerikanischen Gesellschaft sollten auf einmal nicht mehr für alle gelten: Nicht nur den Gefangenen von Guantanamo, auch Häftlingen unter Terrorverdacht in den USA sollte das Recht auf ein faires Verfahren verweigert werden. Folter wurde als "verschärfte Verhörtechnik" schöngeredet, Haft ohne Anklage als staatliche Notwehr gerechtfertigt.

Der libertäre Kommentator und Blogger Andrew Sullivan nannte Amerikas Krieg gegen den Terror "ein klassisches Beispiel dafür, wie ein Krieg in der Fremde auch die Freiheiten in der Heimat einschränkt. Und weil dieser Krieg kein Ende findet, werden diese Freiheiten uns auch für immer genommen sein."

Tatsächlich hat die Regierung Obama nur die schlimmsten Auswüchse der Bush-Jahre beschnitten, im Prinzip aber nichts an den Antiterror-Maßnahmen geändert.

Der Preis wird einfach zu hoch

Fast zwei Drittel aller Amerikaner finden, dass die US-Soldaten schleunigst aus Afghanistan abziehen sollten - aus Irak sowieso. Barry Bennett, ein Universitätsdozent aus Portland, konstatierte in einem Gastbeitrag für den Oregonian, der ältesten US-Zeitung an der Westküste, dass "wir uns zunehmend nicht über unsere Errungenschaften definieren, sondern über unsere Feinde - nicht darüber, wer wir sind, sondern gegen wen wir sind. Wir verbarrikadieren uns und führen zugleich Kriege, die dafür sorgen, dass wir noch höhere Barrikaden brauchen. Wir machen einen tiefgreifenden Wandel durch, nicht nur in unserer Wirtschaft, sondern in unserem Bewusstsein. Wir lassen unsere Schulen, unser Kulturleben und unsere Städte allmählich verkommen."

Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Stoßseufzer ist nicht, dass er so einzigartig wäre, sondern im Gegenteil, dass er so geläufig geworden ist. Klagen wie diese finden sich inzwischen in Stadtzeitungen quer durch die USA, in Blogs und in Diskussionsforen.

Die Washingtoner Politik reagiert allmählich. Es sind nicht mehr nur linke Sektierer wie der demokratische Kongressabgeordnete Dennis Kucinich oder ein libertärer Gesinnungstäter wie der Republikaner Ron Paul, die schon lange gegen die Kriege waren.

Mittlerweile stellt selbst ein Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur wie Jon Huntsman den Sinn des Feldzugs in Afghanistan in Frage. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Senat, der Demokrat John Kerry, empfiehlt eine Beschleunigung des Abzugs, weil der Krieg "nicht mehr durchzuhalten" sei. Und sein Kollege Joe Manchin aus West-Virginia stellt lapidar fest, dass es nun an der Zeit sei, "Amerika wiederaufzubauen, nicht Afghanistan".

Keine Frage, nach einem Jahrzehnt hat Amerika genug vom Krieg. Der Preis wird einfach zu hoch.

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