WHO-Studie über Behinderte:Verdrängt und verharmlost

Mehr als eine Milliarde Menschen sind behindert. Vor allem in Entwicklungsländern ist ihre Lage oft katastrophal: Denn die Betroffenen haben nicht nur ein physisches Problem, sie werden auch sozial benachteiligt.

Tim Neshitov, Ouagadougou

Der Kfz-Mechaniker Soumaila Ouattara wohnt in einem Randviertel von Ouagadougou, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes Burkina Faso. Hier stehen Hütten aus Lehm und Erde, die nach jedem Regen einen Teil ihrer Wände verlieren.

A mental patient lies on the floor during lunchtime at the Galuh foundation compound in East Bekasi

In Indonesien werden psychisch Kranke teilweise angekettet. Sie haben es laut Studie schwerer als physisch Behinderte.

(Foto: REUTERS)

Ouattara ist 58 Jahre alt und hat es geschafft, für seine Familie ein Haus aus Stein zu bauen - im Grunde ist es ein mit Wellblech überdachter Raum. Seit zwei Wochen hat er außerdem einen Rollstuhl, das Geschenk eines Freundes. "Nun kann ich endlich alleine duschen", sagt Ouattara. "Sonst musste mir meine Frau immer helfen." Mit 18 Jahren war er von einem Baum gestürzt, seitdem sind seine Beine gelähmt. Auf der Straße bewegt er sich auf einem Dreirad mit Handantrieb, zu Hause musste er bisher krabbeln.

Es hat 45 Grad, Ouattara sitzt im Schatten einer staubigen Akazie vor seinem Haus und fragt: "Wie geht es Behinderten in Europa?" Erzählt man, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Weltbank diese Woche einen Bericht zur Lage von Behinderten in unterschiedlichen Ländern veröffentlichen, zum ersten Mal in der Geschichte, nickt er zustimmend. "Das ist eine gute Sache, dass sie sich für uns interessieren."

Die Autoren der Studie, die am Donnerstag in New York vorgestellt wurde, haben herausgefunden, dass es weltweit deutlich mehr Behinderte gibt als bisher angenommen: eine Milliarde Menschen, also knapp 15 Prozent der Erdbevölkerung. Da Menschen immer älter werden, sich in Großstädten immer ungesünder ernähren und immer öfter an chronischen Krankheiten wie Diabetes und Herzerkrankungen leiden, steigt diese Zahl weiter. "Behinderung ist Teil des menschlichen Daseins", sagte WHO-Direktorin Margaret Chan. "Fast jeder von uns wird in einer Lebensphase dauerhaft oder zeitweise davon betroffen sein."

Ein Dreirad vom Staat

Spätes Erwachen, meinen Hilfsorganisationen. "Das Problem ist über Jahrzehnte hinweg verdrängt worden", sagt Rainer Brockhaus, Direktor der Christoffel-Blindenmission, die den Bericht mit erstellt hat. Bisher haben verlässliche Statistiken gefehlt, und erst 2006 wurde die UN-Behindertenkonvention verabschiedet, die Deutschland dann vor zwei Jahren ratifizierte. In Entwicklungsländern, wo 80 Prozent aller Behinderten leben, werde das Problem heute im besten Fall verharmlost, sagt Brockhaus. Oft werden Behinderte aber auch ausgegrenzt oder gar verfolgt, wie etwa in Tansania, wo Albinismus als Strafe Gottes gilt. Erfreulich findet Brockhaus, dass die WHO Behinderung nicht mehr als rein medizinisches, sondern auch als soziales Phänomen betrachtet. "Die Behinderung selbst ist nicht immer schwerwiegend, aber der Umgang der Gesellschaft damit macht das Leben für behinderte Menschen oft zur Qual."

Physisch Behinderte wie Soumaila Ouattara haben es laut Studie leichter als geistig Kranke. In Indonesien, wo der Glaube an schwarze Magie stark ist, werden Menschen mit psychischen Störungen angekettet. Auch Blinde und Gehörlose haben ein schweres Los. In Burkina Faso etwa gingen im Jahr 2006 nur zehn Prozent hörbehinderter Kinder zur Schule, während die Einschulungsrate bei körperbehinderten Kindern bei 40 Prozent lag.

Ein Physiotherapeut pro 10.000 Einwohner

"Wir Rollstuhlfahrer können uns nicht beklagen", sagt Soumaila Ouattara. Früher hat er sich zwar geärgert, dass er nach seinem Baumsturz nicht rechtzeitig operiert wurde - sonst könnte er heute womöglich laufen. Aber er hat sich damit abgefunden. "Wir sind eben ein armes Land." In Burkina Faso gibt es pro 10.000 Einwohner nur einen Physiotherapeuten, in Finnland 21. Dass es im reichen Europa trotzdem Probleme gibt - in Essen zum Beispiel fehlt bei vier Fünftel aller orthopädischen Praxen ein behindertengerechter Zugang - kann er nicht verstehen. "Wenn man Geld hat, kann man das doch lösen, oder?"

Soumaila Ouattara bekommt im Monat umgerechnet 50 Euro Rente. Einen Behindertenzuschlag gibt es nicht. Für seine Kinder zahlt er Schulgeld, jeweils knapp hundert Euro im Jahr. Die Regierung hatte einmal versprochen, das Schulgeld für Kinder von Behinderten aufzuheben, aber eingelöst hat sie das bisher nicht.

Das Einzige, was Soumaila Ouattara von seinem Staat umsonst bekommen hat, ist sein Dreirad. Damit fährt er jeden Tag sieben Kilometer ins Stadtzentrum und sucht Gelegenheitsjobs. Er repariert Mopeds, kriecht unter verrostete Lkws. An manchen Tagen bringt er zehn Euro nach Hause, manchmal einen, manchmal nichts. War der Tag gut, fährt er noch im Behindertenzentrum von Ouagadougou vorbei. Dort gibt es eine kleine Werkstatt, in der er jungen Rollstuhlfahrern den Mechanikerjob beibringt - ehrenamtlich.

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