Werkstatt Demokratie:Wir müssen die Zustimmung der Zweifler bekommen

Werkstatt Demokratie: Vertraute Nachbarschaft, vertraute Natur, vertrautes Europa: Wie weit geht Heimat?

Vertraute Nachbarschaft, vertraute Natur, vertrautes Europa: Wie weit geht Heimat?

(Foto: Getty; dpa; Illustration Jessy Asmus)

Europa als Heimat? Im SZ-Format "Pingpong der Positionen" hat Leser Roland Spinola das letzte Wort in der Diskussion um den Leitartikel von SZ-Autor Stefan Ulrich.

Von Roland Spinola und Stefan Ulrich

Kann und muss Europa eine Heimat für seine Bewohner werden? Im SZ-Format "Pingpong der Positionen", in dem Redakteure und Leser ihre Argumente austauschen, hat Meinungsressortchef Stefan Ulrich dafür geworben. Leser Roland Spinola konterte mit einem Plädoyer für Unterschiede und Vielfalt. Nach einer Antwort des SZ-Autors hat der Leser nun das letzte Wort. Außerdem veröffentlichen wir eine Auswahl von weiteren interessanten Leserkommentaren.

Dieser Artikel gehört zur Werkstatt Demokratie, ein Projekt der SZ und der Nemetschek Stiftung. Alle Beiträge der Themenwoche "Heimat Europa" finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Das letzte Wort des Lesers: Es fehlen mitreißende Visionäre und Visionen

Sehr geehrter Herr Ulrich,

ich gebe Ihnen ja recht: Ein europäisches Heimatgefühl und eine europäische Identität wären schon schön und wichtig. Mir scheint, wir debattieren hier eher über die Wege dahin als über die Definition und Ausgestaltung dieser Begriffe - im Ziel sind wir uns wohl einig.

Beim Lesen Ihres Artikels und Ihrer Antwort ist mir etwas in den Sinn gekommen, was ich vergangenes Jahr gelesen habe: Die Überbetonung der Probleme und die daraus resultierende Einstellung, dass alles immer schlechter würde. Die Probleme, die Sie anführen, stimmen ja alle. Die "goldene Zeit", die ich erwähnt habe, hat schlimme Kratzer bekommen, der Gegenwind wird rauer.

Aber: Einer Umfrage des Europäischen Parlaments zufolge halten 62 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU für eine gute Sache. Der höchste Wert seit 25 Jahren. In Deutschland liegt er sogar bei 81 Prozent. Es sieht mit der Zustimmung also nicht so schlecht aus, wie Ihre Analyse vermuten lässt. Und statt zu oft auf die Gefahren und Missstände hinzuweisen (die natürlich benannt werden müssen), sollten wir lieber versuchen, diese 81 Prozent ins Boot zu holen, um die Zustimmung der restlichen Zweifler an der guten Sache EU zu bekommen.

Ich weiß, dass ich damit den Ball wieder an Sie (das heißt die Medien) zurückspiele - und ich tue das mit voller Absicht! Wir haben in Deutschland die möglicherweise beste Presse (für die uns zum Beispiel meine englischen Freunde beneiden) - und die sollte das schaffen.

Und sonst? Es fehlen Visionäre und Visionen, die die Menschen mitreißen und damit auch emotional berühren! Aber dafür habe ich leider kein Rezept.

Roland Spinola

Die Antwort auf die vorherige Leserzuschrift: Es braucht ein europäisches Heimatgefühl

Sehr geehrter Herr Spinola,

zu Ihrer großen, polyglotten, europäischen Familie darf man Ihnen gratulieren. Sie ist ein schönes Beispiel für das Europamotto "In Vielfalt geeint". Sie und Ihre Nachkommen haben die Chance offensichtlich bestens genützt, die das sich einigende Europa bietet. Etliche weitere Familien haben das in ähnlicher Weise getan.

Sehr viele andere Menschen in den EU-Staaten "fremdeln" jedoch mit diesem Europa oder lehnen es völlig ab. Die einen fühlen sich in ihrer nationalen Identität bedroht, andere nehmen die EU als Hort eines Ultrakapitalismus oder diktatorischer Regulierungswut wahr.

Derartige, oft hoch emotionale Ablehnung scheint zuzunehmen. Der Brexit ist ein Ausdruck davon; die Zustimmung vieler Menschen in Italien - einst das europhile Land schlechthin - für die EU-skeptische Lega ein anderer.

Daher reicht es nicht, darauf zu warten, dass jeder Einzelne Europa für sich erobert. Die EU selbst muss dazu beitragen, dass dies immer leichter und häufiger geschieht. Denn die Zeit drängt. Die nächste große Wirtschaftskrise wird kommen, dann muss Europa einem neuen Ansturm der Nationalpopulisten standhalten.

Zudem ändert sich die Welt rapide. China versucht, sich einzelne EU-Staaten gefügig zu machen. Internetgiganten wie Google oder Facebook häufen eine Macht an, die die Macht mancher Staaten übertrifft. Nur eine einige EU kann hier gegenhalten.

Dafür braucht es zumindest im Ansatz europäisches Heimatgefühl, europäische Identität - neben anderen Identitäten, die Sie erwähnen, und deren Mischung jeden so einmalig machen.

Stefan Ulrich

Die Reaktion auf den Leitartikel: Europa kann kein Heimatgefühl bieten

Sehr geehrter Herr Ulrich,

wir planen ein Familientreffen - wir, das sind drei Geschwister zwischen 78 und 83 Jahren. Wir haben zusammengenommen sieben Kinder und 14 Enkel. Mit Partnerinnen und Partnern sind wir 30 Personen. Wir drei "Alten" sind in Köln geboren und aufgewachsen, haben deutsche Eltern, deren Vorfahren alle aus Deutschland sind, das ist unsere "Heimat".

Wir wollen in Köln feiern, das viele unserer Nachfahren nicht kennen: Sie reisen an aus Florenz und Barcelona, aus Berlin und Dublin, aus Heidelberg und Valencia, aus Fulda, Mainz und Kassel. Die meisten sprechen Deutsch, einige eher weniger oder gar nicht; es gibt Katholiken, Protestanten, Juden und Atheisten.

Es gibt keine besonderen Ereignisse, die uns zu so einer multikulturellen Familie gemacht haben. Es war die "goldene Zeit" der letzten fünfzig, sechzig Jahre in einem sich ständig mehr zusammenfindenden Europa, das uns und unseren Kindern die Chancen bot, dieses Europa kennenzulernen und emotionale Bindungen zu entwickeln.

Unsere in Deutschland geborenen "Ausländer" sind in ihrem neuen Land inzwischen genauso verwurzelt, wie sie ihre alte Heimat nach wie vor lieben. Die Geschichten dazu gehören zur Familienfolklore. Und die im Ausland geborenen Enkel lernen Deutschland mehr und mehr durch die deutsche Verwandtschaft kennen.

Mein Bruder hat mehr Jahre in Dublin gewohnt als in Deutschland, meine Tochter ist so in Italien verwurzelt, wie sie das vorher in Deutschland nicht war. Viele Familienmitglieder haben längere Zeit im Ausland gelebt und eine gute Dosis der örtlichen Kultur aufgenommen. All das war selbst gestartet und gesteuert, ohne das Vermögen oder Privilegien geholfen haben.

Man kann seine Heimat lieben und "behalten"

Vor diesem Hintergrund habe ich mir Ihre beiden "Forderungen" angeschaut, die Sie für ein Gelingen eines Heimatgefühls für Europa formuliert haben - und kann Ihnen voll zustimmen. Man kann seine Heimat lieben und "behalten" und trotzdem auch andere Identitäten erwerben, die einem genau so lieb und teuer werden.

Sie schreiben: "Zweitens kommt Europa nicht umhin, den Bürgern auch ein europäisches Heimatgefühl zu bieten." Nein, das kann Europa nicht bieten. Das muss sich der einzelne Mensch selbst erobern. Europa stellt dafür heute bereits einen wunderbaren Rahmen zur Verfügung - und den gilt es zu erhalten und auszubauen, indem man jungen Menschen noch mehr Möglichkeiten an die Hand gibt, die ihnen das Erfahren von kultureller Vielfalt und menschlicher Begegnung ermöglicht.

Dazu braucht es keine "europäische Identität".

Ich habe die ersten, prägenden, vierzig Jahre je zur Hälfte in Köln und in München zugebracht. Das Besondere und Einmalige dieser beiden "Identitäten" empfinde ich als wesentlich interessanter als das, was beiden gemeinsam deutsch ist.

Vielfalt, die die eigene Einmaligkeit erst ermöglicht, ist das "Zauberwort". Darum sollten wir uns bemühen und den Jüngeren das Faszinierende vermitteln, das im Kennenlernen anderer Einmaligkeit liegt.

Jeder von uns ist einmalig und wir sind alle unterschiedlich. Wenn es uns gelingt diese Vielfalt vorurteilslos erfahrbar zu machen, können wir beginnen darüber einen Dialog zu führen und aus den unterschiedlichen Einmaligkeiten Synergie zu entwickeln.

Roland Spinola

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