Ungleichheit:Der Sozial-Äquator

Ost und West, Stadt und Land, Viertel und Viertel - überall in Deutschland wachsen die Gegensätze. Es ist klar, was die Bundesregierung jetzt tun müsste. Aber macht sie es auch?

Von Christian Wernicke

Er liest sich klobig, der Begriff. "Gleichwertige Lebensverhältnisse" verheißt das Grundgesetz. Der Verdacht, dass dieses abstrakte Versprechen eher hohl ist, klingt sofort mit. Und jeder, der seine Augen öffnet, erkennt den Verrat. Jeden Tag, nicht nur im Osten: überall.

Beispiel Essen, Linie 108. 23 Minuten dauert die Tram-Fahrt aus dem reichen, grünen Süden der Ruhrmetropole in den verarmten, schmuddeligen Norden. Wie umgekehrt auch. Am Essener Hauptbahnhof zerschneidet eine unsichtbare Grenze die Stadt. Und als wäre zur Weiterfahrt ein Passierschein nötig, steigen hier fast alle aus: Nord und Süd, Arm und Reich wagen sich nicht vor in die andere Hälfte ihrer Heimatstadt. Viele Kinder haben die andere Seite des Sozial-Äquators nie gesehen.

Solche Scheidelinien ziehen sich durch viele deutsche Städte. Zugleich reißen Brüche zwischen Regionen auf: Blühende Städte und ausgezehrte Landstriche liegen oft nur eine gute halbe Autostunde voneinander entfernt, im Hinterland von Leipzig wie von Köln oder Frankfurt am Main. Und auch national geht es zwischen Nord und Süd alles andere als "gleichwertig" zu: Bayern und Baden-Württemberg florieren, andere Bundesländer darben - trotz der (noch) guten Konjunktur.

Überall wachsen Gegensätze, wuchert Ungleichheit. Doch die deutsche Politik hat in den vergangenen drei Jahrzehnten so getan, als habe man es mit einem eindimensionalen Problem zu tun: West hilft Ost. Seit der Wiedervereinigung 1990 reduzierte sich die nationale Herausforderung fast nur darauf, den fünf "neuen" Bundesländern auf die Beine zu helfen. Diese Solidarität war zwar notwendig und richtig. Aber einseitig. Verwerfungen anderswo gerieten aus dem Blick. Ein Beispiel? 500 000 Kinder leben allein in Nordrhein-Westfalen in Armut. Von Duisburg bis Dortmund finden sich entlang der Emscher ganze Stadtviertel, in denen jedes dritte, oft jedes zweite Kind von Hartz IV lebt. Die Verelendung halber Großstädte im nördlichen Ruhrgebiet blieb national fast unbemerkt - als lägen Gelsenkirchen oder Herne in einem toten Winkel.

Dass sich daran nun viel ändert, ist nicht ausgemacht. Noch nicht. Denn der "Plan für Deutschland", den die Bundesregierung am Mittwoch zu den so wenig "gleichwertigen Lebensverhältnissen" in der Republik vorlegte, mag zwar viele Mängel und Probleme benennen. Welche konkreten Taten und wie viel Geld als Folge fließen sollen, bleibt aber unklar. Ein gutes Zeichen ist, dass der Bund künftig mehr nach wirklicher Bedürftigkeit helfen will - und weniger nach der Himmelsrichtung. Richtig ist auch, dass die öffentliche Hand eingreift und jene Landstriche mit der Zukunft, also dem Internet, verbindet, in denen Mobilfunk-Konzerne nicht investieren. Bei chronischem "Marktversagen" muss der Staat handeln.

Nur, am Mittwoch wuchsen auch gleich wieder Zweifel. Zweifel, dass Berlin endlich seine fehlerhafte Politik korrigieren wird. Dabei ist jedem Finanzpolitiker klar, dass etliche westdeutsche Rathäuser niemals in der Lage sein werden, aus eigener Kraft ihren Schuldenberg abzutragen. Städte wie Pirmasens und Kaiserslautern, Oberhausen, Hagen oder eben Essen droht der Bankrott, sobald die Zinsen steigen. Es eilt, der Bundesfinanzminister muss schnellstens helfen, die Altschulden in einen Sonderfonds zu überführen und langsam abzutragen. Und in einem zweiten Schritt muss Berlin verhindern, dass sich etwa im Ruhrgebiet neue Schulden auftürmen: Die Städte tragen, vor allem bei Hartz IV und der Sozialhilfe, erdrückende Lasten, die ihnen einst Bundesgesetze aufgebürdet haben. Berlin hat zwar angeschafft, zahlt aber nicht genug.

Was droht, falls auch der "Plan für Deutschland" zu einem hohlen Versprechen werden sollte, kann man in Slums amerikanischer Innenstädte bestaunen. Oder nebenan: Um fast jede Großstadt Frankreichs rankt sich ein Betongürtel aus Mietskasernen, in denen inzwischen meist die Ärmsten hausen: Arbeiter und kleine Angestellte, Alleinerziehende, Ausländer. Sie sind in die Banlieues gezogen, weil sie nur hier die Miete zahlen können.

Genau dieser Trend hat längst auch das nördliche Ruhrgebiet erfasst: Als Zechen und Hütten starben, zogen viele Malocher fort - und die billigen Wohnungen übernahmen all jene, die sich nichts Besseres leisten konnten. "Relegations-Zonen" nennen Soziologen diese Quartiere, in denen die AfD reüssiert. Den Städten geht das Geld aus. Was sie für Zinsen oder für Hartz IV berappen, fehlt bei Investitionen für Straßen oder für Schulen. Und so wird Armut vererbt: In den Krisenvierteln des Essener Nordens schafft es nur jeder fünfte Grundschüler aufs Gymnasium oder eine Gesamtschule, im Essener Süden hingegen streben sieben von zehn zum Abitur. Das ist Klassen-Bildung.

Zu lange hat Berlin sein Versprechen verraten. Das wird lange nachwirken. Umso schneller muss die Bundesregierung jetzt umsteuern - damit wenigstens die nächste Generation in Ost wie West hoffen darf, "gleichwertiger" zu leben.

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