Ukraine:Alle Macht einem Komiker

Wolodymyr Selenskyj

Mit dem neuen ukrainischen Präsidenten Selenskij (3.v.l.), einem früheren Schauspieler, verbinden die Menschen die Hoffnung auf Frieden, weniger Korruption und ein besseres Leben.

(Foto: dpa)

Mit der Wahl der Partei von Präsident Selenskij vertrauen die Ukrainer dem Staatschef eine außergewöhnliche Machtfülle an. Damit nehmen sie auch ein Risiko in Kauf.

Kommentar von Frank Nienhuysen

Für einen spektakulären Feldversuch haben sich die Ukrainer entschieden. Erst machten sie aus dem Fernsehkomiker und Präsidentenparodisten Wolodimir Selenskij einen real existierenden Staatschef, jetzt vertrauen sie ihm auch noch mit etwa 30 Prozentpunkten Vorsprung bei der Wahl eine parlamentarische Machtfülle an, wie sie noch keiner seiner Vorgänger hatte.

Die Wähler nehmen ein gewisses Risiko in Kauf, denn das Abgeordnetenhaus füllt sich nun mit vielen Abgeordneten, deren Namen kaum einer kennt, auch in der Ukraine nicht. Es ist erstaunlich, und das gilt nicht nur für die Ukraine, wie sich heutzutage mit Start-up-Parteien Wahlen gewinnen lassen. "Diener des Volkes", Selenskijs Partei, und auch die Partei "Golos" des Rockmusikers Wakartschuk sind akute Neuerscheinungen im politischen Betrieb, die es relativ leicht zu Erfolgen brachten: mit einigen wenigen kernigen Versprechen und einem Personal, das den Charme politischer Frische und Unabhängigkeit ausstrahlen soll. Die Partei des beliebtesten TV-Komikers und die Partei des beliebtesten Rockmusikers werden womöglich zusammenarbeiten, doch so verwegen das klingen mag: Das Risiko, das die Ukrainer eingehen, ist kalkuliert. Sie haben das Gefühl, nicht mehr viel verlieren zu können.

Seit fast zwei Jahrzehnten erlebt das Land eine Abfolge von Hoffnungen, Brüchen und Enttäuschungen: den Taumel der Orangenen Revolution, dann die Fehde ihrer Protagonisten, die Präsidentschaft Janukowitsch, während der das Land zwischen EU und Russland pendelte, ehe es zum Maidan-Protest kam. Nun also das Ende von fünf Jahren Poroschenko, der die immense politische und wirtschaftliche Last des von Russland befeuerten Konflikts im Osten des Landes nicht wirklich abtragen konnte.

In der Ukraine hat sich eine selbstbewusste Zivilgesellschaft etabliert

Doch es gibt auch Hoffnungsvolles: In der Ukraine hat sich eine selbstbewusste Zivilgesellschaft etabliert, wie sie kaum ein anderes Land der ehemaligen Sowjetunion vorweisen kann. Die Machtwechsel zeugen von Pluralismus und Wettbewerb, und der außenpolitische Kurs besteht im mehr oder weniger konstanten Versuch, sich der Europäischen Union anzunähern, weil diese allen Krisen zum Trotz noch immer Demokratie und Wohlstand verheißt.

Aber das Wahlergebnis spiegelt doch sehr deutlich die Unzufriedenheit mit Strukturen wider, die sich auch in anderen Ländern vor allem im Osten Europas finden: dem großen Einfluss reicher Unternehmer auf Politik, Justiz und Medien. Schon die Proteste in Tschechien, Rumänien oder Moldau haben gezeigt, dass viele Menschen den mit der Korruption verbundenen Reformstau nicht mehr hinnehmen wollen. Sie sehnen sich nach einem spürbar besseren Leben, wenn möglich sofort. Gerade die Ukrainer erfahren im Vergleich mit den benachbarten Polen, wie gehemmt die Entwicklung des Landes ist.

Selenskij hat nun den Auftrag und auch die politischen Instrumente, um einiges von dem nachzuholen, was sein Vorgänger nach Ansicht der meisten Ukrainer versäumt hat. Diener des Volkes - dieser Parteiname klingt für sie wie ein großes Versprechen, an dem sich das Selenskij-Lager nun messen lassen muss. Das ist Chance und Bürde zugleich, denn auch die Bevölkerung muss wissen: Für Frieden und Wachstum braucht es Zeit, und Selenskijs Spielraum ist begrenzt.

Die Ukrainer warten auf einen korruptionsfreien Staat

Eines seiner großen Ziele ist das Ende des Krieges im Osten des Landes. Selenskij schlägt gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen konzilianteren Ton an, als dies Poroschenko getan hat. Vielleicht gelingt ihm ein Austausch von Gefangenen, vielleicht gibt es bald nach langer Zeit wieder ein Gipfeltreffen mit Russland, Deutschland, Frankreich; das allein wäre schon ein kleiner Etappenerfolg. Den Schlüssel für einen Durchbruch in dem Konflikt und einen dauerhaften Waffenstillstand hat allerdings Moskau in Händen. Und wenn der ukrainische Präsident nicht auf den Wunsch nach einem Nato-Beitritt verzichtet - was er wohl nicht tun wird -, dürfte sich an der Lage wenig ändern. Und so bleibt der Weg zum Frieden auch für den neuen ukrainischen Präsidenten unwägbar und weit.

Noch dringlicher warten die Ukrainer ohnehin auf einen korruptionsfreien Staat, auf niedrigere Stromrechnungen und höhere Löhne. Selenskij hat dafür die Grundlage geschaffen mit seiner eindrucksvollen Hausmacht im neuen Parlament. Schafft er den Bruch mit den Eliten, mehr Transparenz und Vertrauen, kann dies den wirtschaftlichen Wandel beschleunigen. Die Ukraine hat mehr als 40 Millionen Einwohner, und europäische Firmen warten nur darauf, dass sich das Land stabilisiert.

Die Erwartungen der Bevölkerung an Wolodimir Selenskij sind immens und vielleicht überzogen. Aber er hat dem Land eben auch suggeriert, dass die Ukraine keine Alternative zu ihm hat. Die vielen Nobodys im Parlament wiederum haben keine Wahl, als sich nun schnell einen Namen zu machen.

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