Ukraine:Alle Hoffnungen auf einen

Der neue Präsident kann schnell scheitern.

Von Florian Hassel

Die Ukrainer hoffen auf einen Neubeginn wenn Wolodimir Selenskij als neuer Präsident vereidigt worden ist - auf ein Ende des Krieges gegen Russland in der Ostukraine, auf entschiedenes Vorgehen gegen Korruption und auf wirtschaftliche Reformen, die den Lebensstandard im Land heben. Doch die Ukraine steht nicht vor einem schnellen Neubeginn, sondern vor monatelanger politischer Lähmung und erbittertem Kampf zwischen Selenskij und den alten Kräften.

Der neue Präsident wurde trotz, ja wegen mangelnder politischer Erfahrung gewählt: als weiße Leinwand, die jeder seiner Wähler mit seinen Hoffnungen bemalte. Selenskij wird versuchen, auch seine real bisher nicht existierende Partei "Diener des Volkes", die gar kein echtes Programm hat, als stärkste Partei ins nächste Parlament wählen zu lassen. Das wäre aus Sicht Selenskijs mit einer vorgezogenen Neuwahl am leichtesten. Viel spricht dafür, dass Selenskij einen Erlass unterschreibt, der das Parlament auflöst und eine Neuwahl für Juli statt für Oktober ansetzt.

Das bestehende Parlament wird dies nicht akzeptieren, der Streit wird vor Gericht gehen. Unabhängig vom Ausgang kann Selenkskij aus seiner Sicht nur gewinnen. Entweder die Gerichte entscheiden zu seinen Gunsten. Dann kann Selenskij wählen lassen, bevor er seine kommende Partei nicht nur mit Hoffnungen, sondern mit echtem Inhalt füllen muss. Oder aber die Gerichte entscheiden gegen ihn. Dann wird Selenskij für Stillstand und Konfrontation die Parteien im alten Parlament verantwortlich machen und die bei den meisten Ukrainern nicht minder diskreditierten Gerichte. Den Nimbus des großen Neubeginns könnte er bis zur regulär am 27. Oktober stattfindenden Parlamentswahl hinüberzuretten versuchen.

Der neue Präsident wird mit Politikern paktieren müssen, die er heute noch angreift

Mit der Parlamentswahl werden die richtigen Schwierigkeiten für Selenskij aber erst beginnen. Dann wird der neue Präsident, wird seine neue Partei regieren müssen. Dass sie dazu in der Lage sind, müssen beide erst einmal beweisen. Selenskij hat bisher nur einige populistische Vorschläge gemacht - etwa die Abschaffung der Immunität für Parlamentarier, der des Präsidenten und der Richter. Schwierigere Reformen fehlen. Das Gleiche gilt für das Personal der neuen Präsidentenpartei. Zudem ist es zwar unwahrscheinlich, aber möglich, dass Selenskijs Partei in einem kommenden Parlament eine absolute Mehrheit bekommt und allein regieren kann.

All das bedeutet, dass der neue Präsident vermutlich Kompromisse mit anderen Parteien und Politikern schließen muss - wahrscheinlich auch mit solchen, die er seit Monaten lustvoll angreift und als Verkörperung allen Übels in der Ukraine darstellt. Auch Selenskijs populistische Attacken auf Staatsinstitutionen - auf das Parlament, mit dem er regieren muss, und selbst auf die Präsidialverwaltung, deren oberster Chef er selbst sein wird - werden das Regieren erschweren.

Ungebrochen ist zudem der Einfluss der Oligarchen, also der Milliardäre, die nicht nur die Wirtschaft, sondern auch viele Parteien und damit die Politik zum Schaden der Ukraine kontrollieren. Selenskij selbst wurde von Ihor Kolomojskij, einem der umstrittensten Oligarchen, ins Amt gehievt - und hat bisher mit keinem Wort erwähnt, dass er gegen die Oligarchen vorgehen will. Die Hoffnungen auf einen Neubeginn in der Ukraine sind groß. Doch es ist gut möglich, dass sie enttäuscht werden.

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