Türkei:Deutsche "Erdoğan-Phobie" irritiert Türken

  • Der Putschversuch in der Türkei wird dort ganz anders wahrgenommen als in Deutschland. Viele Türken sind irritiert von der Kritik aus Deutschland an Präsident Erdoğan.
  • Mit dem Putsch hat die türkische Politik wieder ein Thema gefunden, das eint - zum ersten Mal seit Jahren.
  • Sowohl die Regierung als auch die Opposition machen die Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Eine demokratisch gewählte Regierung hat einen Putschversuch überstanden. Aber Fatih Er, Nachrichtenchef von TRT World, dem türkischen Staatsfernsehen in englischer Sprache, hat den Eindruck, die Deutschen könnten sich nicht mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan darüber freuen. Warum? Er sagt: "Ich nenne es eine Erdoğan-Phobie."

Anstatt mit den Demokraten zu feiern, schütteten Politik und Medien kübelweise Kritik über Erdoğan aus. Das früher nicht immer gute, aber doch stabile Verhältnis zu Deutschland hat Risse bekommen. Die Wahrnehmung des Putsches in Deutschland ist so eine ganz andere als die türkische. Kaum irgendwo sonst spiegelt sich das wie bei der Demonstration im Köln.

In der Türkei drängt sich der Eindruck auf, die Behörden würden alles unternehmen, um die Demonstration zu verbieten. Der Kölner Polizeipräsident brüstete sich noch damit, einen Auftritt des türkischen Außenministers verhindert zu haben. Mustafa Yeneroğlu, seit 2015 für die AKP Abgeordneter im türkischen Parlament, ist irritiert über dieses Demokratieverständnis. Sonst lasse Deutschland keine Gelegenheit aus, die Türkei zu kritisieren, ihr zu erklären, was Demokratie bedeutet. Und nun dies.

Die Türkei ist für die Deutschen zum Untergangsland geworden. Licht wolle niemand sehen, glaubt nicht nur Yeneroğlu.

In Köln gehen die Gegner Erdoğans auf die Straße. Sie demonstrieren gegen die Erdoğan-Anhänger. Die türkische Community in Deutschland: tief gespalten. In Ankara? Da gehen Erdoğans Gegner, die Chefs von zwei der drei großen Oppositionsparteien, einen gewaltigen Schritt auf diesen schier übermächtigen Staatspräsidenten zu. Sie besuchten ihn nach dem gescheiterten Putsch in seinem Palast. Ein Protzbau, für den die Opposition sonst nur Verachtung übrig hatte.

Die türkische Politik hat erstmals seit Jahren wieder ein gemeinsames Thema gefunden

Zwei Wahlen hatte das Land im vergangenen Jahr hinter sich gebracht. Zahlreiche blutige Terroranschläge hat das Land seit Sommer vergangenen Jahres überstanden. Egal wie groß die Not, wie groß der Kummer im Land war, keines dieser Ereignisse konnte Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHP, und Devlet Bahçeli von der ultranationalistischen MHP dazu bewegen, die Schwelle zum Palast zu überschreiten. Es musste erst der versuchte Militärputsch am 15. Juli 2016 kommen.

Anfang vergangener Woche trafen sich die beiden Oppositionspolitiker im Palast mit Erdoğan. Für einen Augenblick schien die Feindschaft ausgeblendet zu sein. Das erste Mal seit Jahren hat die türkische Politik wieder ein Thema gefunden, das eint. Selbst die prokurdische HDP, die von der Regierung als verlängerter Arm der Terrororganisation PKK betrachtet und bekämpft wird, ist in diesem Punkt einer Meinung mit Erdoğan, auch wenn sie nicht zu diesem Treffen eingeladen war: Nichts ist so schlimm wie ein Putschregime.

Während in Deutschland die Meinung vorherrscht, der Putsch ist der letzte Schritt, um die Alleinherrschaft Erdoğans in der Türkei zu zementieren, keimt in der Türkei ganz zaghaft ein anderes Gefühl. Es ist zwar ein bisschen früh, um von Versöhnung zu sprechen. Aber auf vielen Seiten ist das Bemühen nicht mehr zu übersehen, ein weiteres Auseinanderbrechen des Landes verhindern zu wollen. Am Sonntag vor einer Woche durfte die CHP auf dem Istanbuler Taksim eine Großkundgebung gegen den Putschversuch und für die Demokratie im Land abhalten. Die Erdoğan-Partei AKP hat den Aufruf sogar unterstützt, und vereinzelt waren auch ihre Anhänger unter den Teilnehmern.

Der gemeinsame Feind von Regierung und Opposition

Der Taksim ist ein symbolträchtiger Platz. Seit den blutigen Protesten um den Gezi-Park 2013 hatten oppositionelle Gruppen diesen Ort nicht mehr so in Anspruch nehmen dürfen. In der Nacht zu Samstag hatte Erdoğan wieder eine große Überraschung parat. Bei einer Rede in seinem Präsidentenpalast kündigte er an, alle Klagen wegen Beleidigung seiner Person zurückziehen zu wollen. Er wolle dies als Geste des guten Willens verstanden wissen.

Aktuell laufen etwa 2000 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung. Oppositionsführer Kılıçdaroğlu hatte Erdoğan vor dem Putschversuch mal als "Möchtegern-Diktator" beschimpft, nur ein Fall von Hunderten. Verziehen. Man musste gar nicht prominent sein, um von Erdoğans Anwälten juristisch verfolgt zu werden. Es konnte jeden treffen.

Wie weit Erdoğans Versöhnungswille tatsächlich geht, wird sich nicht an der Frage entscheiden, ob er auch irgendwann die Klage gegen den deutschen Satiriker Jan Böhmermann wegen dessen Schmähgedichts zurückzieht, sondern wie er im türkischen Parlament weiter vorgeht.

Die Klage gegen Jan Böhmermann spielt hier überhaupt keine Rolle

Auf Drängen seiner AKP hatte das Parlament die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten aufgehoben. Ein Manöver, das zwar alle Parteien trifft, aber keine so stark wie die prokurdische HDP. Gegen fast alle ihrer Fraktionsmitglieder kann nun ermittelt werden. Meistens steht wegen der Nähe zur PKK der Terrorvorwurf im Mittelpunkt. Der Parlamentsbeschluss hat das Potenzial, die HDP zu zerstören. Wird Erdoğan Milde zeigen? Der Druck habe ein wenig nachgelassen, heißt es bei der HDP. Seit mehr als einer Woche lebt das Land nun unter dem verhängten Ausnahmezustand. Die HDP durfte trotzdem demonstrieren gehen. Die Aktionen des Staates richten sich zuvorderst gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung. Nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition macht sie für den Putsch verantwortlich.

Die Gülen-Bewegung ist ein willkommener Feind für alle. Ohne den islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen Netzwerk im Staat hätte es Erdoğan nie bis ganz nach oben geschafft. Eigentlich waren es zwei Fromme, die ganz nach oben wollten. Erdoğan hatte den Willen und die Partei. Und Gülen die Beziehungen. Es war Gülens erklärtes Ziel, den Staat von innen heraus zu erobern, die Macht der säkularen Eliten zu brechen. Als das geschafft war, richtete Gülen aber sein Netzwerk gegen Erdoğan, und der Bruderkampf begann.

Nun hat Erdoğan zum entscheidenden Schlag ausgeholt. Mehr als 66 000 Menschen haben ihren Job verloren, es kam zu mehr als 18 000 Festnahmen. Zwar warnt Oppositionschef Kılıçdaroğlu vor einer "Hexenjagd". Anderseits scheint es ihm ganz recht zu sein, wenn niemand danach fragt, ob die "Gülenisten" beim Putsch nicht auch Unterstützung aus dem Lager seiner CHP bekommen hätten. In der Türkei zeigen alle nur noch mit dem Finger auf Gülen.

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