Todesflug MH17:Rekonstruktion einer Katastrophe

Absturzstelle von MH17 in der Ostukraine

Die Absturzstelle von MH17 gleicht einem riesigen Trümmerfeld: Allein das spricht stark für einen Abschuss.

(Foto: AFP)

Eins soll sicher sein: Der Flug MH17 wurde über der Ostukraine abgeschossen. Doch es bleiben viele offene Fragen: Wo genau wurde die Rakete abgefeuert, wer gab den Befehl? Wurde die Passagiermaschine verwechselt? Der aktuelle Stand der Ermittlungen im Überblick.

Von Paul-Anton Krüger

Was am Donnerstagabend noch ein Verdacht war, verdichtete sich am Freitag immer mehr zu einer schrecklichen Gewissheit: Flug MH17 mit fast 300 Menschen an Bord ist auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über dem umkämpften Osten der Ukraine von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen worden. US-Geheimdienste hatten sich schon in der Nacht mit dieser Einschätzung zitieren lassen, ein hochrangiger Vertreter der EU äußerte sich am Freitag ähnlich. Und die Indizien dafür sind vielfältig.

Allein schon das Trümmerfeld verrät Experten viel. Bei einem Absturz durch einen technischen Defekt sieht es sehr anders aus, als wenn ein Verkehrsflugzeug in der Luft von einer Rakete getroffen wird. Die Maschine zerreißt dabei nicht selten schon in der Luft. Augenzeugen haben berichtet, dass die Maschine "in Teilen" vom Himmel gestürzt sei. Von den Flugschreibern ist indes kaum Aufschluss zu erwarten, allenfalls von den Stimmenrekordern aus dem Cockpit - wenn die Piloten noch Zeit hatten, nach dem Raketentreffer etwas zu sagen. Allerdings war am Freitag nicht klar, ob die Flugschreiber geborgen wurden und wo sie geblieben sind.

Todesflug MH17: Kleines Zeugnis einer großen Katastrophe: die zerborstene Uhr eines Passagiers von Flug MH17.

Kleines Zeugnis einer großen Katastrophe: die zerborstene Uhr eines Passagiers von Flug MH17.

(Foto: Dmitry Lovetsky/AP)

Allerdings dürften westliche Geheimdienste für die Analyse eher auf Daten aus einer Reihe verschiedener Aufklärungssysteme zurückgreifen: Satelliten, Drohnen und Awacs-Flugzeuge, im Prinzip fliegende Radarstationen mit großer Reichweite. Die Himmelsspäher mit Infrarot-Sensoren wurden einst als Frühwarnsystem entwickelt, um Starts von Atom-Raketen zu entdecken. Sie würden aber auch den Feuerstrahl einer großen Luftabwehrrakete entdecken, die nötig ist, um die Flughöhe der Boeing 777 von mehr als 10 000 Metern zu erreichen. Die Abschussstelle lässt sich damit relativ genau lokalisieren, modernere Satelliten könnten sogar den Flugweg der Rakete aufzeichnen.

Im Zentrum des Verdachts steht das Abwehrsystem Buk-1M

"Luft- und raumgestützte Systeme" könnten die Rakete orten, sagen deutsche Experten. Man müsse davon ausgehen, dass die USA mit hoch fliegenden Drohnen Aufklärung betrieben. Die wüssten "genau, wann welches Radar wie aktiv war - bis auf das Exemplar genau", sagt einer der Insider. Er will wie die anderen nicht namentlich genannt sein, weil Details zur Leistungsfähigkeit von Systemen der Nato ebenso wie Erkenntnisse über russische Waffen der Geheimhaltung unterliegen.

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Suchmannschaften durchkämmen die Absturzstelle der malaysischen Boeing 777 in der Ostukraine auf Hinterlassenschaften der Passagiere.

(Foto: Dominique Faget/AFP)

Weitgehend sicher ist also, dass ein Luftabwehrsystem mit größerer Reichweite der Maschine zum Verhängnis wurde. Im Zentrum des Verdachts steht das aus sowjetischer Produktion stammende Buk-1M, das je nach Version Ziele bis in 14 oder sogar 25 Kilometern Höhe zerstören kann. Weniger klar ist noch, wer für den Abschuss verantwortlich ist. Die Ukraine und die prorussischen Separatisten wiesen sich schon kurz nach der Katastrophe gegenseitig die Schuld zu. Diese Frage wird sich wohl erst nach einer umfassenden Untersuchung abschließend beantworten lassen.

Doch es gibt Indizien. Die russischen Truppen an der Grenze zur Ostukraine verfügen über Buk-1M, was soviel heißt wie "Buche", ebenfalls über noch leistungsfähigere S-300-Batterien. Die Separatisten haben sich damit gebrüstet, von den ukrainischen Streitkräften einen mit Buk-1M bestückten Stützpunkt erobert zu haben. Jedoch geht Kiew davon aus, dass diese Systeme nicht einsatzfähig waren. Zudem könnten Batterien des russischen Militärs in von Freischärlern kontrollierten Gebieten operieren oder diesen zur Verfügung gestellt worden sein, wie es der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk mutmaßt. Die Raketen sind auf Panzer-Fahrgestellen montiert und damit schnell verlegbar. Auch die Ukraine betreibt das Luftabwehrsystem. Wichtigster Hinweis, wer hinter dem Abschuss steckt, dürfte der Ort sein, von dem aus die Rakete abgefeuert wurde. Augenzeugen berichteten, kurz vor dem Absturz hätten sie einen Raketenschweif in der Nähe des Ortes Grabovo gesehen, einer Gegend, die von Separatisten kontrolliert wird. Das dürfte sich genau einkreisen lassen durch Daten von Aufklärungssystemen, die noch nicht öffentlich sind. US-Medien berichteten, dass die US-Geheimdienste es für "sehr wahrscheinlich" hielten, dass die Separatisten für den Abschuss verantwortlich sind, die Rakete aus ihrem Gebiet nahe der Grenze zu Russland abgefeuert wurde. US-Präsident Barack Obama machte sich dies am Abend zu eigen.

Flugabwehrrakete

"Ich wünschte, das Fliegen wäre nie erfunden worden", soll Winston Churchill kurz vor 1914 geseufzt haben. Viele Menschen, auf die später ein Bombenhagel niederging, haben wohl ähnlich gedacht. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bestand die Flugabwehr aus Artillerie gegen Flugzeuge in großen Höhen und aus Schnellfeuerkanonen und MGs gegen Tiefflieger. Trotz großer Verluste war die Bomberoffensive der Alliierten gegen Nazideutschland durch die Flak, die Flugabwehrkanonen, niemals zu stoppen, der Munitionsverbrauch für einen einzigen Abschuss blieb gewaltig. Erst in den sechziger Jahren kamen effektive Boden-Luft-Raketen auf, die das Flugzeug mit Radar, Hitzesensoren oder sonstiger Hightech gezielt verfolgen. Die Sowjetunion, der die Luftmacht der USA weit überlegen war, entwickelte besonders leistungsfähige Abwehrsysteme. Seit den siebziger Jahren wurden in Kriegen und bei Terrorakten Raketen eingesetzt, die ein Mann von der Schulter aus abfeuern kann, so die SA 7 aus der UdSSR und die amerikanische Stinger-Rakete, welche etliche russische Bomber und Hubschrauber über Afghanistan abschoss. Verglichen damit ist die russische Rakete vom Typ Buk, die über der Ukraine ein Passagierflugzeug getroffen haben soll, eine sehr komplexe, nur von Spezialisten bedienbare Waffe. Sie wird von Militärfahrzeugen abgefeuert und vermag Ziele noch in 25 Kilometern Höhe zu treffen. Joachim Käppner

Der ukrainische Geheimdienst veröffentlichte zudem angeblich abgehörte Telefonate zwischen Freischärlern. Darin sprechen sie über den Abschuss. Ein Rebellenkommandeur, Oberst Igor Girkin alias Strelkow, hatte im Internet den Abschuss eines ukrainischen Militärtransporters verkündet - und damit einen Hinweis auf eine mögliche Version der Ereignisse geliefert, die manche Experten für die wahrscheinlichste halten: Die Bedienungsmannschaft dachte offenkundig, sie feuere auf ein Frachtflugzeug der ukrainischen Streitkräfte - und schoss nicht vorsätzlich ein ziviles Verkehrsflugzeug ab. Angeblich soll in der fraglichen Zeit eine solche Transportmaschine im Luftraum gewesen sein.

Professionell ausgebildete und trainierte Soldaten hätten erkennen müssen, auf was sie da zielten, sagt einer der deutschen Experten. Zivile Flugzeuge identifizieren sich über einen Transponder, dessen Signale moderne Luftabwehrsysteme erkennen. Militärmaschinen dagegen haben eine Freund-Feind-Kennung an Bord. Auf dem grünen Radarschirm würden beide aber nur als weißer Punkt erscheinen. Separatisten mit einer militärischen Ausbildung könnten das Raketensystem zwar wohl bedienen - hätten ihren folgenschweren Fehler womöglich aber erst bemerkt, als es zu spät war. Sollte diese Theorie zutreffen, würde sich die Frage nach der Verantwortung noch anders stellen. Sie müsste dann lauten: Wie ist ein solches Waffensystem in die Hände der Separatisten geraten?

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