Thüringer Verfassungsschutz im NSU-Skandal:"Es war dunkel, außerdem war ich betrunken"

War der Thüringer Verfassungsschutzpräsident ein Dilettant, der im Büro Fahrrad fuhr, barfuß umherlief und Damen bewirtete? Der NSU-Untersuchungsausschuss zeichnet ein verheerendes Bild von Helmut Roewer und seiner Behörde. Eine Linken-Abgeordnete hat die unglaublichsten Aussagen gesammelt und ins Netz gestellt.

Wenn es nicht um zehn Mordopfer ginge, um eine Nazi-Terrorbande, die zehn Jahre lang frei herumlaufen konnte, dann wäre das, was im Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz offenkundig vor sich ging, Material für eine Slapstick-Komödie. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man laut lachen.

NSU-Untersuchungsausschuss befragt Ex-Verfassungsschutzchef Roewer

Helmut Roewer war von 1994 bis 2000 Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen.

(Foto: dapd)

Die stümperhafte Arbeit der Erfurter Behörde war am Montag Gegenstand im NSU-Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag. Der einstige Präsident des Landesamtes, Helmut Roewer, wies jede Verantwortung von sich. Sein bemerkenswerter Auftritt ist in diesem SZ-Artikel nachzulesen.

Das Protokoll der Sitzung ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Linken-Abgeordnete Katharina König, die an der Befragung teilnahm, hat jedoch die "Top 10 Aussagen" der drei Verfassungsschutz-Zeugen in ihrem Blog veröffentlicht. Um das "Wahnsinnschaos" zu dokumentieren, wie sie im Gespräch mit SZ.de sagt. "Die Sitzung wurde ja nicht im Fernsehen übertragen, es gab für die breite Öffentlichkeit keine Möglichkeit, das Chaos zu dokumentieren. Deshalb habe ich die bemerkenswertesten Zitate mitgeschrieben und online gestellt."

Im Netz werden die Aussagen der Verfassungsschützer mit einer Mischung aus Amüsement und Fassungslosigkeit kommentiert: "Ist das der Verfassungsschutz oder ein Irrenhaus?" oder "Wenn es nicht so schlimm wäre, wäre es große Comedy", heißt es bei Twitter. "Die Zitate waren dermaßen bizarr, dass ich mich dabei erwischt habe, immer wieder nachzuschauen, ob ich nicht auf den Titanic-Seiten bin", schreibt ein Kommentator in einem Blog.

Ähnlich ging es Dorothea Marx, Landtagsabgeordnete der SPD und Vorsitzende des Untersuchungsausschusses: "Es gefriert einem das Lachen, wenn man das hört." Marx bestätigte die Echtheit der Zitate auf SZ-Anfrage.

Nachfolgend dokumentieren wir die von Katharina König gesammelten Aussagen.

Norbert W., ein heute pensionierter Geheimdienstler, der seinerzeit in der Abteilung "Werbung und Forschung" des Landesamts tätig war, wird wie folgt zitiert:

"Der Roewer sollte mal aus dem Amt gedrängt werden. Dafür wurde ein Dossier angefordert. Dazu kam es aber nicht. Die Person ist kurzfristig nach einem Urlaub verstorben."

"Skinheads anzuwerben war eine absolute Katastrophe, die besaufen sich und können sich dann an nichts mehr erinnern."

Im Anschluss an Norbert W. sprach Karl Friedrich Schrader, einst Referatsleiter in der Abteilung für Rechtsextremismus.

"Roewer ist in der sechsten Etage der Verfassungsschutzbehörde einmal Fahrrad gefahren. Auf die Frage, warum er das macht, antwortete er, er müsse neue Observationsfahrräder testen für die Observationskräfte."

"Einmal kam ich in Roewers Dienstzimmer, da standen drei Tische aneinander, mit Kerzen, Käse, Wein und sechs bis sieben Damen drumherum. Man wusste gar nicht, mit welcher er zuerst zu Gange ist. Ich sollte ihm in deren Anwesenheit geheime Dinge erzählen."

"Im Sommer lief Roewer immer barfuß durchs Amt. Dann lagen seine schwarzen Füße auf dem Schreibtisch, während wir uns in seinem Büro besprachen."

"Leider wurde das Referat 1998 von Roewer aufgelöst, so wie er das immer selbstherrlich machte. Immer dann, wenn er mit dem Referatsleiter Ärger hatte, hat er das Referat aufgelöst. Und das war dann so."

Eine Quelle namens "Günther"

"Roewer hatte eine eigene Quelle, die keiner kannte, die hieß Günther. Alle im Amt wussten von der Quelle Günther und dass sie gut bezahlt wurde. Aber keiner kannte sie."

"Als ich einen Beschwerdebrief über die Praxis im Amt an den Innenminister schrieb, wurde ich im Anschluss mit sieben bis acht Verfahren überzogen. Man hat mich zum Amtsarzt geschickt, um meine geistige Gesundheit zu überprüfen."

"Nach Weihnachten 1999 hat mir Roewer Hausverbot erteilt. Danach war ich bis 2005 bei vollem Gehalt zu Haus. Am Anfang hab ich mich zuerst nicht so wohlgefühlt, aber nach einiger Zeit dann doch gut daran gewöhnt."

Helmut Roewer stritt die Anschuldigungen ab. Seine eigenen Aussagen sind jedoch kaum geeignet, die Behörde in ein besseres Licht zu rücken. Im Gegenteil.

"Es gab viele im Amt, die nichts konnten, und nur wenige, die fortgebildet werden konnten. Ich galt als Spitzenkraft auf dem Gebiet Verfassungsschutz."

"Einmal musste ich disziplinarrechtlich einschreiten, da hatte einer meiner Mitarbeiter volltrunken einen Dienstwagen zu Schrott gefahren. Hinter der freundlichen Fassade steckt nicht immer Kompetenz."

"Es waren 50 Leute im Landesamt für Verfassungsschutz, von den 50 hatte keiner eine richtige Ausbildung. Meine Vorgesetzten waren der Meinung, ich sollte das machen. Sie haben mich exzellent beurteilt."

"Es wurde aus unserem Amt versehentlich mal ein Fax an die Grünen verschickt, mit einer Personenliste von PDS-Abgeordneten. Das Fax sollte eigentlich an die CDU gehen und war aber gar nicht autorisiert. Ein Mitarbeiter hat das ohne Absprache mit mir gemacht. Ich war da im Urlaub."

(Auf die Frage, wie er Verfassungsschutz-Präsident wurde:) "Es war an einem Tag nachts um 23 Uhr, da brachte mir eine unbekannte Person eine Ernennungsurkunde vorbei, in einem gelben Umschlag. Es war dunkel, ich konnte sie nicht erkennen. Ich war außerdem betrunken. Am Morgen fand ich den Umschlag jedenfalls noch in meiner Jacke."

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