Strategie der Kanzlerin beim EU-Gipfel:Wie Merkel Europa auf ihre Linie gebracht hat

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An diesem Mittwoch muss Merkel die Ergebnisse des EU-Gipfels dem Bundestag verkaufen. Klar ist: Die Einigung von Brüssel entspricht weitgehend ihren Vorschlägen. Denn nicht nur der britische Premier Cameron hat die Lage falsch eingeschätzt. Auch Kommissionspräsident Barroso und der Chef des Europäischen Rates Van Rompuy haben Merkels Verhandlungsgeschick unterschätzt.

Martin Winter, Brüssel

Sechsundzwanzig der europäischen Staats- und Regierungschefs fuhren nach dem Gipfel am vergangenen Freitag mehr oder minder zufrieden nach Hause. David Cameron aber, der siebenundzwanzigste, steckt nun in Schwierigkeiten, weil er nicht rechtzeitig die politische Kurve gekriegt hat und sein Land damit europapolitisch isolierte. Der britische Premier ist freilich nicht der Einzige, der die Lage vor und auf diesem von den deutschen Reformideen geprägten Gipfel falsch eingeschätzt hatte.

"Es wäre mir recht gewesen, Großbritannien hätte Ja gesagt", sagte Angela Merkel (Im Hintergrund der britische Premier David Cameron) im Anschluss an den Brüsseler EU-Gipfel. Doch ihre diplomatische Strategie für eine Fiskalunion war bereits seit Wochen auf den kerneuropäischen, weil schnelleren Weg ausgerichtet. Ohne die Briten. (Foto: REUTERS)

Noch am Vorabend des Treffens hieß es aus der von José Manuel Barroso geführten EU-Kommission, dass man "keine Änderung der Verträge" brauche. Mitarbeiter von Herman Van Rompuy, dem Präsidenten des Europäischen Rates, verbreiteten über Wochen, dass Berlin isoliert sei. Und Van Rompuy selbst glaubte noch bis zur letzten Minute, einen "Kompromiss" durchsetzen zu können, der eine Niederlage Berlins gewesen wäre.

Dass der Gipfel dann vergleichsweise schnell ablief, dass sich die deutschen Ideen in Inhalt und Form weitgehend durchsetzten, und dass der Preis für die Einigung wesentlich geringer ausfiel, als viele angenommen hatten, hat einen einfachen Grund: In Brüssel wie in London wurden die politische Entschlossenheit der deutschen Kanzlerin und ihr diplomatisches Geschick unter- und der Widerstand in den anderen EU-Ländern überschätzt. Dieses Bild ergibt sich aus Gesprächen mit direkt oder indirekt beteiligten Politikern und Diplomaten.

Erleuchtung in Cannes

Die Geschichte dieses Gipfels beginnt am 1. November, als der damalige griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou eine Volksabstimmung über den sechs Tage zuvor in der EU für sein Land mühselig ausgehandelten finanziellen Rettungsplan ankündigte. Der weltweite Verlust an politischem und finanziellem Vertrauen in die EU, der diesem Schritt auf dem Fuße folgte, wirbelte das Spitzentreffen der zwanzig führenden Wirtschaftsnationen der Welt (G20) am 3. November in Cannes durcheinander.

Vergeblich stemmten sich die europäischen Führer, an ihrer Spitze der französische Präsident Nicolas Sarkozy, gegen eine rasch wachsende Panik der Märkte. In Cannes wurde Kanzlerin Angela Merkel klar, dass "wir schneller machen müssen", erinnert sich ein hoher Diplomat. Der auf dem EU-Gipfel am 26. Oktober verabredete Fahrplan, wonach Van Rompuy im Dezember einen "Zwischenbericht" über notwendige Korrekturen am europäischen Gebäude vorlegen sollte, die man dann frühestens im März 2012 beschließen wollte, war für Merkel nicht mehr haltbar. Es müsse nicht nur das Vertrauen in die europäischen Finanzen, sondern auch in die europäische Politik wiederhergestellt werden.

Zurück in Berlin, legte Merkel ihr Ziel fest: Der EU-Gipfel im Dezember müsse der Stabilitätspolitik politische Streben einziehen. Es begann eine der möglicherweise mühsamsten politischen und diplomatischen Operationen Berlins in den letzten Jahren. Denn nicht jeder kam aus Cannes erleuchtet zurück. Barroso wie Van Rompuy hätten die "Dringlichkeit so nicht gesehen", heißt es unter Diplomaten. Überhaupt habe sich die Phantasie Brüssels bei der Lösung der Krise vor allem darauf beschränkt, nach immer mehr Geld zu fragen.

Weil Berlin aus Brüssel keine Unterstützung erwarten konnte, ging es bilateral vor. Merkels europäischer Chefberater Nikolaus Meyer-Landrut begann schon früh im November, seine Kollegen von Finnland bis Zypern zu bearbeiten. Mit Paris stand das Kanzleramt im Dauergespräch. Und Merkel selbst warb bei vielen Staats- und Regierungschefs für ihre Position. Manchem erklärte sie diese sogar unter vier Augen, wie dem britischen Premier, der am 18. November in Berlin zu Gast war. Dabei war Merkels Diplomatie zwar diskret, aber nicht geheim. Am 24. November, also zwei Wochen vor dem Gipfel, erläuterten deutsche Spitzenbeamte ihren Kollegen in Brüssel im Detail die Berliner Linie. Dort konnte man also wissen, worum es ging und wie ernst es Merkel damit war.

Dass Van Rompuy dennoch lange glaubte, die Deutschen könnten sich nicht durchsetzen, lag möglicherweise daran, dass seine Leute, die etwas später als die Deutschen in die Mitgliedsländer ausgeschwärmt waren, nur sahen, was sie sehen wollten. In den meisten Ländern bekamen die Abgesandten aus Berlin wie aus Brüssel die im Grunde gleiche Antwort: Wir können die deutschen Ideen nachvollziehen, aber wir fürchten die Risiken einer Vertragsänderung. Die Brüsseler stützten sich in ihrer weiteren Strategie auf den zweiten Teil der Antwort und übersahen dabei, dass die deutschen Ideen von einer Fiskalunion mit dem Andauern der Krise in den meisten EU-Ländern an Attraktivität gewannen.

Berlin zog aus den Gesprächen einen anderen Schluss: Die Reform müsse sich auf wenige Punkte beschränken, und sie müsse schnell gehen. Darüber gab es sogar erste diskrete Gespräche mit den beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament.

Zugleich aber bereitete Merkel den Plan B vor: die Lösung außerhalb des EU-Rechts, die am Ende ja herauskam. Berlin kalkulierte britischen Widerstand ein. Doch weder das Signal, dass Berlin lieber den kerneuropäischen - und damit auf jeden Fall schnelleren - Weg geht, als auf seine Inhalte zu verzichten, noch die Tatsache, dass sich Sarkozy am 5. November demonstrativ auf die deutsche Seite schlug, brachte Van Rompuy von seiner Linie ab. Am 6. November legte er einen "Bericht" vor, in dem er unverhohlen für eine Lösung plädierte, die sehr weit von den deutschen Ideen lag. Trotz diplomatischer Verbalinjurien aus Berlin ("Manche haben den Ernst der Lage immer noch nicht verstanden") nahm er an, dass die Mehrheit der Länder seinem, dem leichteren Weg folgen würde.

Auch Cameron ging wohl mit der Überzeugung in den Gipfel, dass die Deutschen schwer um ihre Position kämpfen müssten. Das britische Ja wollte er sich teuer abkaufen lassen. Als der Gipfel bereits in vollem Gange war, verbreiteten britische Diplomaten immer noch, dass es erstens auf Van Rompuys Kompromiss hinauslaufen und Cameron zweitens auch "irgendetwas" bekommen würde. Beides stimmte da schon nicht mehr.

Nach einem Gespräch mit dem Briten eine halbe Stunde vor Beginn des Gipfels hatten Merkel und Sarkozy Cameron abgeschrieben. Denn dessen Forderungen, hieß es später in Paris und Berlin, liefen auf nicht weniger hinaus, als die Integration der EU bei der Regulierung der Finanzmärkte "zurückzudrehen". Cameron aber konnte von dem Ross nicht mehr herunter, auf das er sich geschwungen hatte. Und Van Rompuy? Dem muss am frühen Abend geschwant haben, dass Merkels Reformdiplomatie erfolgreicher war als angenommen. Pünktlich zum Abendessen der Staats- und Regierungschefs legte er einen neuen "Bericht" vor. Einen, in dem sich fast alle deutsche Positionen wiederfanden.

© SZ vom 14.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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