Stasi-Unterlagen:Zerreißprobe

Die automatisierte Rekonstruktion von Millionen Stasi-Akten ist vorerst gestoppt. Bevor die Papierschnipsel mithilfe einer Software zusammengesetzt werden können, müssen sie von Hand gescannt werden.

Von Robert Probst

Als es mit der DDR zu Ende ging, versagten nicht nur politische Strukturen, sondern auch die "Verkollerungsanlagen". Im Herbst 1989 und auch nach der Maueröffnung hatten die Mitarbeiter der Staatssicherheit deshalb alle Hände voll zu tun. Weil die Kapazität der Feuchtschredder, die man Verkollerungsanlagen nannte, nicht ausreichte, wurden brisante Akten nicht nur zu Papierbrei verstampft, durch Reißwölfe geschoben oder verbrannt, sondern auch mit der Hand zerrissen.

Seit vielen Jahren wird nun schon versucht, diese Überreste des deutschen Überwachungsstaates zu rekonstruieren. Etwa 16 000 Säcke "vorvernichteter" Akten hat die Stasi hinterlassen. Seiten, die mehrfach per Hand zerrissen wurden und die man wieder zu lesbaren Papieren zusammensetzen kann - aber nur mit viel Mühe und noch mehr Geduld. Zwischen 300 und 600 Jahren würde das dauern, wenn Menschen diese Arbeit erledigen müssten. Doch auch auf diesem Gebiet kam der technische Fortschritt voran. Das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik hatte eine Software entwickelt, die das Ganze virtuell hätte erledigen können. Und zwar innerhalb weniger Jahre, wie die Entwickler damals schwärmten. Beim "hätte" bleibt es nun aber vorerst - der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, hat das ehrgeizige Pilotprojekt gestoppt. Der Grund: technische Schwierigkeiten an einer Stelle, über die offenbar niemand zuvor richtig nachgedacht hat.

Der von Fraunhofer entwickelte "ePuzzler", der mit komplexen Algorithmen der Bildverarbeitung und Mustererkennung gescannte Papierfragmente automatisiert zu vollständigen Seiten zusammensetzt, funktioniert jedenfalls seit etwa vier Jahren einwandfrei. Das Problem sind die Scanner. Die auf dem Markt befindlichen Geräte können jedenfalls die Millionen an Schnipseln nicht vollautomatisch bewältigen. Also mussten sie per Hand eingelegt werden.

Auf diese Weise ist seit dem Start des Pilotvorhabens 2007 der Inhalt von 23 Säcken virtuell rekonstruiert worden, das entspricht 91 000 Seiten. Zum Vergleich: Seit 1995 haben eifrige Mitarbeiter schon 500 Säcke per Hand zusammengepuzzelt, den Umfang von 1,6 Millionen Blättern. Die Stasi-Unterlagenbehörde umschreibt die Problematik so: "Der Prozess der Entwicklung der Technologie ist durch neue Erkenntnisse unterbrochen und entsprechend neu ausgerichtet worden. Das hat Zeit- und Finanzierungsplanungen gründlich verschoben."

Bisher sind sieben Millionen Euro in das Projekt geflossen, 2015 hat der Bundestag weitere zwei Millionen genehmigt. Sollte irgendwann einmal alles reibungslos funktionieren, wäre ein Vielfaches an Geld nötig. Die Behörde hofft nun darauf, dass irgendwann neue Scanner-Technologien zur Verfügung stehen - und womöglich auch mehr Mittel. Aufgeben will man jedenfalls nicht.

Relevante Erkenntnisse dürften sich in den Schnipseln auf jeden Fall noch verbergen. Und es ist die Pflicht der Behörde, die Akten aufzubewahren und zugänglich zu machen. Wichtig ist Roland Jahn aber vor allem dies: "Die Stasi darf nicht im Nachhinein bestimmen, was wir lesen können und was nicht."

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