Abkehr von Hartz IV:Wie die SPD aus dem Tief kommen will

SPD-Spitze geht in Klausur

Einstimmig hat der SPD-Parteivorstand das neue Sozialstaatskonzept von Parteichefin Nahles gebilligt.

(Foto: dpa)
  • Einstimmig hat der SPD-Parteivorstand das neue Sozialstaatskonzept von Parteichefin Nahles gebilligt.
  • Auf dem Papier macht die Partei damit Schluss mit dem Hartz-IV-System.
  • Für die anstehenden Wahlen in Europa, in Bremen und in drei ostdeutschen Bundesländern kommen die Positionierungen womöglich spät.

Von Mike Szymanski, Berlin

Etwas ist anders an diesem Tag im Willy-Brandt-Haus. SPD-Chefin Andrea Nahles steht am Rednerpult der Berliner Parteizentrale. Sie sagt: "Sie sehen hier eine gut gelaunte, positiv gestimmte Parteichefin stehen." Nahles stand schon oft an dieser Stelle. Aber mit guter Laune?

Nahles wirkt zufrieden. Mehr noch, sie wirkt regelrecht gelöst an diesem Sonntag. Soeben hat der Parteivorstand ihr neues Sozialstaatskonzept gebilligt. Einstimmig. Die SPD weiß, was sie will. Nach langer Zeit könnte Nahles tatsächlich ein großer Schritt gelungen sein. Wird sie als die Chefin in die Parteigeschichte eingehen, die die SPD am Ende doch noch mit den umstrittenen Hartz-IV-Reformen versöhnt hat? Das Konzeptpapier umfasst 17 Seiten. Es trägt den Titel: "Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit." Nahles sagt, das sei jetzt "neue sozialdemokratische Politik".

Auf dem Papier macht die Partei Schluss mit einem Hartz-IV-System, das bei Betroffenen Angst und Schrecken ausgelöst hat. Im Fall des Jobverlustes war auch schnell das eigene, mitunter kleine Vermögen weg und auch schnell die große Wohnung.

Im neuen SPD-Papier heißt es nun: "Die Leistungen des Sozialstaates sind soziale Rechte, die Bürgerinnen und Bürgern zustehen." Sie seien "Inhaber dieser Rechte" und "keine Bittsteller". Wer länger gearbeitet hat, soll auch deutlich länger Arbeitslosengeld I oder Leistungen in dieser Höhe beziehen können. Maximal 36 Monate für Ältere sollen möglich werden, bevor die Grundsicherung greift. Hinzu kommt, falls immer noch kein Job gefunden sein sollte, eine Schonfrist von weiteren zwei Jahren, in denen Vermögen und die Wohnung geschützt bleiben sollen. Der Staat sorge fünf Jahre lang "für Halt und Perspektive", wie es jetzt heißt.

Der Mindestlohn soll steigen, auf zwölf Euro. Arbeiten soll flexibler werden, etwa im Home-Office oder in Teilzeit. Es soll einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung geben, weil sich die Arbeitswelt so rapide verändere. Und auch für Selbständige will die SPD besser sorgen. "Zukunft in Arbeit" steht auf der Wand, vor der Nahles das neue Sozialstaatskonzept ihrer Partei bewirbt. Und weil die SPD an diesem Sonntag schon so einen Lauf hat, stellt sich der Parteivorstand auch gleich noch hinter die Vorschläge von Arbeitsminister Hubertus Heil, der die Rente für Geringverdiener deutlich aufbessern will.

SPD leidet bis heute unter Schröders Reformen

Das ist die Antwort der Nahles-SPD auf die Schröder-SPD. Der frühere SPD-Kanzler und Parteichef Gerhard Schröder hatte kürzlich in einem Spiegel-Interview Nahles die nötige Wirtschaftskompetenz für eine Kanzlerkandidatur abgesprochen. Schröder wollte damals mit seiner "Agenda 2010"-Politik das Land zukunftsfest machen. Nur, von der SPD ist seither nicht mehr wirklich viel übrig geblieben. Sie leidet bis heute unter Schröders Reformen, die viele ihrer Anhänger - vor allem jene in sozialer Not - als Verrat empfunden haben dürften.

Als Nahles vor bald einem Jahr um den Parteivorsitz kämpfte, hatte sich ihre Gegenkandidatin, die Außenseiterin Simone Lange, noch für die Agenda-Politik entschuldigt. Das tat Nahles nicht. Sie tat etwas anderes: Sie holte die Hartz-IV-Kritiker mit an den Tisch, sie ließ ihre Partei diskutieren. "Sie hat Raum für die Debatte geschaffen", sagt Parteivize Manuela Schwesig am Sonntag. "Das wird anerkannt."

Achim Post, Chef der Bundestagsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen, hat eine Woche im Wahlkreis hinter sich, als er zur Klausur nach Berlin anreist. Gut 20 Termine absolvierte er an der Basis, wo in letzter Zeit wenig Gutes über die Arbeit in Berlin zu hören war. Aber an diesem Wochenende ist er erstmals seit langer Zeit mit einem guten Gefühl nach Berlin gefahren. "Bei den Veranstaltungen in der letzten Woche wurde das Konzept goutiert", sagt er. "Ob das reicht, einen Stimmungswechsel herbeizuführen, wird man erst in den nächsten Wochen und Monaten sehen." Auch in anderen Landesverbänden kommt das Konzept gut an. Andreas Stoch, Vorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, äußerte vorsichtig die Hoffnung, dass die Partei die "lähmende Vergangenheitsbewältigung über Sinn und Unsinn der Agenda 2010" nun endlich abschließen könne.

Die SPD dürfte mit dem Konzept zwar längst nicht all ihre Probleme los sein. Für die anstehenden Wahlen in Europa, in Bremen und in drei ostdeutschen Bundesländern kommen die Positionierungen womöglich zu spät. Aber die Wirkung in die Partei hinein, so berichten es Mitglieder des Parteivorstandes, sei kaum zu unterschätzen: Ein interner Konflikt weniger.

Nur, je genauer die Partei feststellt, was sie eigentlich will, desto schwieriger dürfte sich das Zusammenleben in der großen Koalition gestalten. In der Parteispitze ist klar, dass die SPD von ihrem neuen Sozialstaatskonzept zusammen mit CDU und CSU kaum etwas wird durchsetzen können. Beim Koalitionspartner werden die Kurskorrekturen bereits als "Linksruck" wahrgenommen. Nahles sagt, ihr gehe es erst mal um die SPD.

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