Debatte um Hartz IV:Der "Schneider vom Paritätischen" holt aus

Warum viele Kinder kein warmes Mittagsessen bekommen: Ulrich Schneider hat ein anklagendes Buch über Armut geschrieben. Zur Präsentation kam FDP-General Lindner.

Thorsten Denkler, Berlin

Christian Lindner hat Blitze an den Seitenrand gemalt. Und zwar immer dann, wenn der Generalsekretär der FDP nicht einverstanden war mit dem, was Ulrich Schneider in seinem Buch Armes Deutschland - neue Perspektiven für einen anderen Wohlstand geschrieben hat. Das war ziemlich oft der Fall.

Ulrich Schneider

Er legt ein neues Buch über Armut in Deutschland vor: Ulrich Schneider, der  Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

(Foto: Fotos: dpa, ddp / Grafik: sueddeutsche.de)

Ulrich Schneider ist in Berlin bekannt als der "Schneider vom Paritätischen", wie die Tagesspiegel-Redakteurin Tissy Bruns, Moderatorin des Abends, sagt. Er ist Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und so etwas wie ein Lobbyist der Armen.

Ein ungleiches Paar sitzt da vorne auf dem Podium im fünften Stock des IG-Metall-Hauses in Berlin-Kreuzberg. Der fächerförmige Saal ist etwas für Architekturfans der sechziger Jahre, messingfarbene Fensterrahmen, holzvertäfelte Wände. Auf Lindner wirkt das Ambiente so: "Das sieht hier aus, als müssten wir hier berichten über die Abrüstungsgespräche zwischen Warschauer Pakt und der Nato".

Fragt sich nur wer von beiden welchen Part übernimmt.

Phänotypisch ist Schneider eher dem Warschauer Pakt zuzuordnen. Konservative Amerikaner würden ihn sicher auch heute noch für einen Kommunisten halten. Er ist ein bärbeißiger Mann, mit einem Kopf so rund wie ein Fußball, weit auseinanderstehenden Augen, Koteletten, die in Breite und Länge an modische Ausuferungen der späten siebziger Jahre erinnern. Ein Rocker zudem, mit eigener Band.

Lindner dagegen wirkt mit seinen 31 Jahren nahezu jugendlich. Der schmale Anzug sitzt, die Krawatte auch, die schwarzen Schuhe glänzen. Schneider dürfte der sein, der sich in dem IG-Metall-Haus deutlich wohler fühlt. Er habe Lindner für die Buchvorstellung gewollt - nicht weil er mit ihm immer einer Meinung sei, sondern ihn trotzdem für intelligent und sympathisch halte. Spätestens da mussten wohl einige der vielleicht 60 Zuhörer im Saal schlucken. Es sind auch Hartz-IV-Aktivisten da, die wahrscheinlich gerne ein bisschen mehr Krawall auf dem Podium erlebt hätten.

Der FDP-Generalsekretär klärt auf, dass Schneider kein objektives, kein wissenschaftliches, sondern ein zutiefst einseitiges und emotionales Buch über Armut geschrieben habe. Schneider beschreibe ein Land, das sich immer "auf die Mitte konzentriert hat und die Ränder systematisch ausblendet". Ein Land, in dem es immer wieder zu massivem Sozialabbau gekommen sei. Schneider nickt.

Lindner nickt nicht. "Ich widerspreche, dass der Sozialstaat auf dem Rückzug ist", erklärt er und verweist auf die Sozialstaatsquote, die jahrzehntelang relativ stabil geblieben sei. Trotz immer höherer Wirtschaftskraft des Landes.

Blitze und Eselsohren

Der FDP-General scheint sich Seite für Seite durch das Buch arbeiten zu wollen. Sein Exemplar sieht aus, als hätte er es Hunderte Male von vorne bis hinten und zurück gewälzt. Gelbe Zettel, Eselsohren, Anmerkungen, besagte Blitze, manchmal ein Haken, wenn er mit etwas einverstanden war.

Zum Beispiel die Stelle, an der Schneider die Erwerbsarbeit als Grundlage für ein gutes Leben beschreibt. Dann aber beugt sich Lindner tief über das Buch und schüttelt den Kopf, während er die "Lösungsvorschläge" aus dem Buch fischt, mit denen Schneider die Armut bekämpfen will: Mehr Kindergeld etwa, mehr Stellen für Schuldnerberatung, vor allem aber mehr Hartz-IV-Geld.

Schneider fordert einen Regelsatz von 450 Euro. 90 Euro mehr, als derzeit bezahlt werden. Die Bundesregierung will den Hartz-IV-Satz gerade mal um fünf Euro aufstocken, was viele für einen schlechten Witz halten.

"Wer soll das bezahlen?"

"Wer soll das bezahlen?", fragt Lindner, und glaubt den wunden Punkt in Schneiders Argumentation getroffen zu haben. Dazu nämlich, "das sage ich mit Augenzwinkern", habe Schneider sich lediglich in einen zweiseitigen Exkurs ausgelassen. Von 230 Seiten. Es geht darin vor allem darum, den Reichen über höhere Steuern mehr Geld abzunehmen.

FDP-Bundesparteitag

Er schlug sich recht wacker bei der Diskussion im IG-Metall-Haus in Berlin-Kreuzberg: FDP-Generalsekretär Christian Lindner.

(Foto: ag.ddp)

Schneider gibt später trocken zurück, dass auch diese zwei Seiten nur auf Druck seines Lektors zustande gekommen seien. Und es seien deswegen nur zwei Seiten, "weil die Sache eigentlich so klar ist".

Lindner schaut ihn an, als käme der Koteletten-Mann vom Mond. Auch der FDP-Shootingstar ist am Ende des Tages ein Steuersenker, der die angeblichen Leistungsträger nicht überfordern will. Und wenn andere den Spitzensteuersatz bereits von 53 auf 47 Prozent gesenkt haben, dann muss er im Zweifel eben noch weiter runter. Nicht Umverteilung, sondern weniger Staat lautet das Credo der FDP.

Der Sozial-Lobbyist Schneider sieht das gänzlich anders. In Guido-Westerwelle-Manier sagt er: "Die Verteilungsfrage muss enttabuisiert werden." Lindner zuckt mit der Augenbraue, als hätte jemand neben ihm eine Granate gezündet. Schneider weiter: "Wir scheuen uns davor zu sagen, dass jemand reich ist." Er sei aber nicht bereit, sich damit abzufinden, dass "wir im fünftreichsten Land der Welt Armut nicht abstellen können". In Deutschland lägen "fünf Billionen Euro auf den Sparkonten. Da kann es doch nicht sein, dass Kinder kein warmes Essen kriegen."

Und doch sind die Unterschiede zwischen Lindner und Schneider gar nicht so groß. Beide geben Arbeit den Vorrang. Beide sagen, ohne klare Zukunftsperspektive wird kein Jugendlicher sich in der Schule anstrengen, wird kein Hartz-IV-Empfänger auf Dauer für neue Jobs zu motivieren sein. Der Politiker glaubt aber, das müsse Vorrang vor mehr staatlicher Unterstützung haben. Schneider hingegen will beides, Perspektive und einen höheren Regelsatz. Das habe etwas mit Menschenwürde zu tun.

Fast so schlimm wiegt für Schneider der von Vorurteilen geprägte öffentliche Umgang mit Hartz-IV-Empfängern. Die Eltern stünden morgens alle nicht auf, weshalb die Kinder nicht zur Schule kämen. Und wenn Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) jetzt das "Genussgift" Alkohol geißele und damit begründe, dass Alkohol und Zigaretten nicht mehr in die Bedarfsrechnung für den Regelsatz flössen, dann wird der "Generalverdacht aufgestellt, dass offensichtlich Erhebliches versoffen wird".

Süffisant bemerkt Schneider, dass Unionsfraktionschef Volker Kauder offiziell Botschafter des deutschen Bieres sei und angeblich zwei bis drei Weizenbiere am Tag brauche. Ein Zuhörer bemerkt, dass Bayern einmal gegen die Aufweichung des deutschen Reinheitsgebotes geklagt habe mit der Begründung, Bier sei in Deutschland ein "Grundnahrungsmittel".

Ausgehende Argumente

Lindner ist der, der da nicht mitlachen kann. Er verteidigt die Kürzung mit "normativen Entscheidungen", die zu fällen gewesen seien. Schneider sagt, dass genau das eben nicht passiert sei. Und zählt mal auf, was er meint. Für ein 14-jähriges Mädchen seien für den Frisörbesuch im Regelsatz 1,28 Euro im Monat vorgesehen. "Das heißt, es kann einmal im Jahr zum Frisör gehen." Gebühren für die Leihbücherei: schlappe 25 Cent im Monat. Schneider prophezeit: "Das ist nicht wirklichkeitsnah und sichert nicht das Existenzminimum." Er sei sich sicher, dass das vom Bundesverfassungsgericht "sofort einkassiert wird".

Es ist der Punkt in der Debatte, in der Lindner so langsam die Argumente ausgehen. Er versucht noch zu punkten, in dem er erklärt, dass nach der Hartz-IV-Neuberechnung die Sätze für Kinder eigentlich sinken müssten, die Bundesregierung aber mit "150 Millionen Euro hier für Vertrauensschutz sorgen wird". Die Prophezeiung ist ebenso fragwürdig, wie die Erhöhung des Satzes für Erwachsene um fünf Euro.

Eine Hartz-IV-Empfängerin im Publikum stört, dass immer Niedriglöhner gegen Hartz-IV-Empfänger ausgespielt werden. Da hebt der FDP-Mann hilflos die Hände und flüchtet sich in gestelzte Sätze, in denen er etwas von "geringer individueller Produktivität in einer Dienstleistungsgesellschaft im internationalen Wettbewerb" erzählt. Wen er damit erreichen will, weiß nur er alleine.

Dennoch: Christian Lindner hat sich ganz gut geschlagen in dieser Runde im IG-Metall-Haus. Gewinnen konnte er hier ohnehin nicht.

Nach der Buchvorstellung lässt er er sich sogar auf einen längeren Disput mit einem Diplom-Betriebswirt ein, der seit zwei Jahren keinen Job mehr hat. Er kann den Mann nicht überzeugen. Das wäre aber auch ein Wunder. Am Pullover des Betriebswirts hängt ein gelber Button. Aufschrift: "Gays against Guido".

Zu diesem Thema aber kann Lindner nun wirklich nichts sagen.

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