Skandal um falsche Asyl-Bescheide:So wurde das Bamf zum Sündenbock

BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Regale voller Akten von Antragstellern im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Berlin.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Horst Seehofer muss heute im Innenausschuss des Bundestages Auskunft über den Bamf-Skandal geben.
  • Dabei wird es vor allem um die Vorgänge in Bremen gehen - das Problem ist aber größer.
  • Vieles spricht dafür, dass der politisch gewollte, schnelle Ausbau der Behörde zu den Schwierigkeiten beigetragen hat.

Von Stefan Braun, Berlin

Asylentscheide, die falsch sind? Ausgestellt durch Beamte, die gar nicht zuständig waren? Tausende solcher Fälle, über die die Leitung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) seit Monaten informiert war? Wenn die Mitglieder des Bundestags-Innenausschusses an diesem Dienstag zu einer Sondersitzung zusammenkommen, geht es nicht um eine Bagatelle, sondern um einen handfesten Skandal. Umfassende Aufklärung ist nötig, über das Wie, das Wie häufig, das Warum und das Wo-ist-bei-all-dem-die-Kontrolle-geblieben.

Die Sitzung wird deshalb kaum die einzige bleiben, sondern bald durch weitere ergänzt werden müssen. Zumal diese Woche mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Bamf-Chefin Jutta Cordt nur die amtierenden Chefs zur Berichterstattung antreten. Um wirklich herauszufinden, was passiert ist, ab wann die jeweiligen Leitungen Bescheid wussten und was sie dann veranlasst haben, werden sich auch der frühere Minister Thomas de Maizière (CDU) und der ehemalige Amtschef Frank-Jürgen Weise den kritischen Fragen stellen müssen.

So gesehen ist alles angerichtet für einen großen Streit, für Machtkämpfe und Partei-Attacken. Die AfD geißelt sowieso alles, was mit Flüchtlingen zu tun hat. Deshalb fühlt sie sich durch die Geschichte bestätigt. Die FDP fordert längst einen Untersuchungsausschuss, und das am besten über die gesamte Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Was vor allem jene bestätigt, die bei Parteichef Christian Lindner in den vergangenen Monaten eine Merkel-muss-weg-Haltung als stärkste politische Triebfeder ausgemacht haben.

Die Grünen hingegen zögern in der Frage eines U-Ausschusses, weil sie ahnen, dass die AfD dann für vier Jahre eine Bühne erhält, um immer wieder ihr Thema "Flüchtlinge raus" in den Vordergrund zu rücken. Deshalb wollen die Grünen Aufklärung jetzt, im Innenausschuss. Auch wenn dazu zehn Sondersitzungen nötig werden sollten.

Und was macht die SPD? Mancher Sozialdemokrat schlüpft wie Parteivize Ralf Stegner angesichts der Attacken von AfD, FDP und Bild-Zeitung ("Die Bande vom Bamf") eiligst ins Oppositionsgewand und ruft lauthals, an der "Chronologie des Scheiterns" trage die Kanzlerin großen Anteil. Doch statt aufzuklären, wolle sie "den Kontrollverlust aussitzen". Solche Vokabeln werfen die Frage auf, ob Stegner im Sog mancher gefährlicher Übertreibungen seinen Kompass für die wahren Verhältnisse schon verloren hat.

Denn so klassisch die Reflexe und das politische Verhalten sein mögen - so sehr laufen viele derzeit Gefahr, sich nicht mehr den Blick auf das zu bewahren, was bislang wirklich bekannt ist. Jeder einzelne Betrugsfall ist einer zu viel. Und Tausende sind ein großes Ärgernis. Gleichzeitig aber ist nach wie vor nicht geklärt, ob der angenommene Betrug von Bremen ein Beispiel für viele Verfehlungen bundesweit ist - oder ob er zu einer Reihe von Ausnahmen zählt, die man ins Verhältnis zu den rund 1,8 Millionen Asylverfahren stellen müsste, die in den vergangenen fünf Jahren vom Bamf bearbeitet wurden.

Sachliche, aber auch taktische Gründe für den Bamf-Ausbau

Noch gravierender ist eine andere Frage: Ob die von quasi allen Parteien in dramatischen Worten geforderte Blitz-Vergrößerung des Bamf massiv zu den jetzigen Problemen beigetragen hat. Wer sich an den Herbst 2014 erinnert, als im Kanzleramt der erste von später noch viel mehr Flüchtlingsgipfeln abgehalten wurde, weiß noch, dass schon in dieser Zeit so gut wie alle Parteien im Bund und in den Ländern nach schnelleren Verfahren und also mehr Personal im Bundesamt riefen.

Was damals begann, schwoll im Sommer und Herbst 2015 zu einem Sturm an. Und das hatte sachliche, aber auch taktische Gründe. Sachliche Gründe, weil die Verfahrensdauer in die Höhe geschossen war. Mit der Folge, dass das Bamf immer weniger in der Lage war, schnell zu entscheiden und die Belastungen abzubauen.

Es gab aber auch politisch-taktische Gründe, weil beim Missmanagement in der heißen Phase der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 alle möglichen politischen Ebenen Fehler machten, also auch viele Politiker in den Bundesländern. Und da regierten nicht die Kanzlerin und ihre CDU, sondern auch rot-schwarze, rot-grüne und grün-rote Landesregierungen.

Hauptsache, an der Oberfläche sah alles gut aus

Wer also genau hinsehen wollte, konnte gut erkennen, dass im damals rot-grün regierten Nordrhein-Westfalen genauso wie in manch anderem Bundesland alle möglichen Behörden ziemlich schlecht funktionierten. Deshalb war es aus deren Sicht viel angenehmer, mit dem Finger immer wieder auf das Bamf und seine mangelhafte Ausstattung zu zeigen, statt eigene Fehler aufzuarbeiten. Politisch tat das weniger weh.

Und so wurde das Bamf zum Sündenbock - und seine Reform zur allergrößten Aufgabe. Dabei ging es immer weniger um präzise Prüfungen der Anträge und immer stärker um die Frage, wie schnell wie viele neue Kräfte dort angestellt werden könnten, um die Verfahrensdauer zu senken.

Binnen ein, zwei Jahren wurden Tausende Mitarbeiter neu eingestellt, meist mit einer Kurzschulung, um dem politischen Druck aus allen politischen Richtungen zu begegnen. Als Ober-Chef der Neuorganisation wurde Frank-Jürgen Weise berufen. Er hatte die Bundesagentur für Arbeit modernisiert, aber mit Asylverfahren bis dahin nicht viel zu tun gehabt.

Auf dem Papier sah der Umbau bald gut aus. Die Verfahrensdauer verkürzte sich massiv, die Zahl der jährlichen Entscheidungen schoss in die Höhe, von 80 000 im Jahr 2013 und 128 000 im Jahr 2015 auf knapp 700 000 im Jahr 2016 und mehr als 600 000 im Jahr 2017.

Dass in der gleichen Zeit die Beschwerden des Personalrats immer lauter wurden, ging im allgemeinen Gefühl der Beruhigung unter. Dass in der gleichen Zeit nicht nur die Zahl der Gerichtsverfahren, sondern auch die Zahl der Gerichtsurteile anstieg, die einen Bescheid korrigierten, galt als unvermeidliche Nebenfolge, die das große Ganze aber nicht stören sollte. Hauptsache, an der Oberfläche sah alles gut aus.

Wer ein längeres Gedächtnis hat, erinnert sich daran, dass es so etwas Ähnliches in der Geschichte schon einmal gegeben hat. Und dass das damals nicht wirklich gut ausging. Auch wenn man Asylbescheide und die Auflösung der DDR-Wirtschaft in der Sache nicht vergleichen kann, erinnert die Geschichte einer unter höchstem Zeitdruck Anfang der 1990er Jahre aufgebauten Treuhand am Ende doch sehr an die Baustellen, mit denen seit Jahren das Bamf kämpft.

So weiß man heute, dass beim Aufbau der Treuhand nach dem Fall der Mauer vieles ganz schnell gehen musste, weil man fürchtete, sonst die Unternehmen und die Arbeitsplätze zu gefährden. Selbst damals verantwortliche Politiker und Minister räumen heute ein, dass unter dem Druck nicht nur Experten, sondern auch viele Abenteurer aus dem Westen bei der Behörde landeten. Es kamen oft nicht die Besten, sondern die Mutigsten, die Wildesten und manchmal vor allem jene, die das Schnäppchen jagten und die Folgen für andere ignorierten.

Anders ausgedrückt: Auch damals musste es vor allem schnell gehen; auch damals wurden innerhalb kurzer Zeit mehrere Tausend Menschen angeheuert; auch damals ging zu oft ein rascher Arbeitsbeginn vor Ausbildung und Quantität vor Qualität.

Der Autor Dirk Laabs hat das in seinem Buch "Der deutsche Goldrausch" mit vielen Beispielen geschildert. Man muss nicht alle Analysen von Laabs teilen, um in seiner Darstellung Erschreckendes zu finden.

Und wie geht es mit dem Bamf jetzt weiter? Im Innenausschuss geht es zunächst vor allem um die Vergehen von Bremen und um die Frage, ob diese Art des Betrugs die Ausnahme war oder womöglich viel öfter auftrat. Außerdem muss geklärt werden, ob die Leitungen des Bundesamts und des Innenministeriums adäquat reagierten, als sie das erste Mal von all dem erfuhren. Aufklärung der Fehler - das steht an erster Stelle.

Politisch wichtiger aber könnte der Schritt danach werden: Also die Antwort auf die Frage, was man aus dieser Krise lernen sollte. Dass unter Tausenden Menschen auch mal Betrüger stecken, ist statistisch gesehen wahrscheinlich leider unvermeidlich. Aber dass man beim hektischen Aus- oder Aufbau solcher Behörden schwerwiegende Fehler machen kann, sollte sich ins Gedächtnis eingraben. Dann wäre aus dem Skandal wenigstens etwas Gutes herauszuholen.

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