Schottische Unabhängigkeit:Nichts wie weg von England

Schottland

Schottland-Fan im Wembley-Stadion, London (Archiv): Am 18. September sind 4,2 Millionen Wähler zur Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit aufgerufen

(Foto: dpa)

Überraschend viele Schotten wollen, dass ihr Land vom Vereinigten britischen Königreich unabhängig wird. Sie haben gute Gründe dafür - jenseits nationalistischer Phantastereien.

Von Mark Dawson

Um 5.15 Uhr am Morgen des 19. September 2014, nach einer für Millionen Menschen schlaflosen Nacht, wird das Endergebnis des Referendums über die Unabhängigkeit Schottlands verkündet. Es löst ein politisches Erdbeben aus in einem Gemeinwesen, dass es nun nicht mehr gibt: dem Vereinigten Königreich. Gegen alle Erwartungen erreichen die Befürworter der Unabhängigkeit 50,8 Prozent.

Tatsächlich hatte sich schon seit dem Sommer eine Wende zugunsten der schottischen Nationalisten abgezeichnet. In mehreren Fernsehdebatten konnte Alex Salmond, der Chef der Schottischen Nationalpartei SNP, viele Schotten davon überzeugen, dass eine bessere Zukunft für die Nation außerhalb des Vereinigten Königreichs liege. Nationalistische Gefühle waren schon während der äußerst erfolgreichen Commonwealth-Spiele im Juli in Glasgow erwacht.

Der patriotische Überschwang steigerte sich noch, als das schottische Fußballteam am 7. September überraschend Weltmeister Deutschland bezwang. Schottland, scherzte Salmond, "ist nun inoffizieller Weltmeister". Als das weiße Andreaskreuz der schottischen Nationalflagge über dem Schloss von Edinburgh aufgezogen wurde, dankte der SNP-Chef Bundeskanzlerin Angela Merkel für deren Glückwunsch-Telegramm. Darin hatte sie angedeutet, dass Schottland einen "offenen und konstruktiven" Dialog über seine weitere EU-Mitgliedschaft erwarten könne. "Willkommen", verkündete Salmond, "bei der Geburt einer neuen Nation."

Fünf Gründe für einen möglichen Überraschungserfolg

Gut, das alles ist natürlich nationalistische Phantasterei. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Gegner der Unabhängigkeit, denen Umfragen immer noch sechs Prozentpunkte Vorsprung geben, das Referendum gewinnen. Doch es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum die Nationalisten aus einem klaren Rückstand fast ein Kopf-an-Kopf-Rennen machen konnten - und sogar ein Überraschungserfolg in zwei Wochen möglich erscheint. Dafür gibt es vor allem fünf Gründe.

Erstens: das erfolgreiche Dämpfen der überhöhter Erwartungen. Ironischerweise war es der größte Erfolg der Unabhängigkeitsfreunde, den Schotten das Gefühl zu geben, dass sich mit der Unabhängigkeit wenig ändern würde. Die SNP spielte ständig herunter, in welchem Ausmaß die Unabhängigkeit das tägliche Leben umkrempeln würde. Das neue Schottland soll "unabhängig" sein, aber weiterhin die Monarchie, das britische Pfund, die Mitgliedschaft in EU und Nato und sogar die BBC mit dem Nachbarn England teilen. Darum sehen viele Schotten das Unabhängigkeitsvotum weniger als russisches Roulette denn als eine Abstimmung, die geschätzte britische Institutionen bewahrt - ganz egal, was herauskommt.

Schottische Unabhängigkeit: Mark Dawson, 31, lehrt als Professor für Europarecht an der Hertie School of Governance in Berlin. Er ist Schotte.

Mark Dawson, 31, lehrt als Professor für Europarecht an der Hertie School of Governance in Berlin. Er ist Schotte.

(Foto: Vincent Mosch)

Auch der Verbleib im Vereinigten Königreich birgt Risiken

Zweitens: die Negativ-Kampagne der Unabhängigkeitsgegner. Das kulturelle Erbe von beliebten Einrichtungen wie der BBC oder der Monarchie sollte den Gegnern der Unabhängigkeit eigentlich einen uneinholbaren Vorsprung verschaffen. Die Schotten haben enge kulturelle und familiäre Verbindungen ins übrige Königreich. Die Gegner der Unabhängigkeit könnten also auf eine positive Vision vom Fortbestand der Union bauen.

Doch die Vertreter des Nein haben ihren Vorteil mit dem Verbreiten von Schreckensbildern über die schottische Eigenständigkeit verspielt. Seit Anfang 2014 haben die großen Parteien gemeinsam darauf bestanden, dass ein unabhängiges Schottland aus allen gemeinsamen Institutionen des Vereinigten Königreichs ausgeschlossen wird, insbesondere aus der Währungsunion.

Alistair Darling, der Anführer der Unionisten, argumentierte wiederholt, dass der schottische Staat gezwungen wäre, seine eigene wachsweiche Währung aufzubauen. Doch der Eindruck, dass sich Englands politische Führer gegen die Schotten zusammentun, um deren Ausschluss von öffentlichen Gütern betreiben, die auch die Schotten selbst mitaufgebaut haben, stärkt eher die Unterstützer der Unabhängigkeit.

Drittens: die gut organisierte Ja-Kampagne. Die Befürworter der Unabhängigkeit hatten dagegen immer Heimvorteil. Im Gegensatz zu den zersplitterten Unionisten wird die Einheit der Nationalisten durch deren Mitgliedschaft in einer bewährten politischen Bewegung gestärkt, der SNP. Deren Führer Salmond ist nicht nur ein raffinierter Strippenzieher, sondern der populärste Politiker des Landes. Sollte die Unabhängigkeit kommen, wäre das vor allem seiner Hartnäckigkeit zu verdanken.

Viertens: ein "neuer" schottischer Nationalismus. Zentraler Bestandteil seines Erfolgs ist Salmonds Fähigkeit, einen neuen Typ Nationalgefühl anzusprechen. Die Eröffnungszeremonie der Commonwealth-Spiele wurde stark kritisiert, weil sie nur Schottenkaro, Whisky, Golf und Seeungeheuer zeigte - ein nostalgisches Klischee, das mit dem urbanen Schottland von heute nichts zu tun hat.

Dagegen versucht die SNP, einen Nationalismus mit einem viel moderneren Gesicht zu präsentieren. Ganz im Gegensatz zur fremdenfeindlichen Rhetorik anderer nationalistischer Bewegungen zeichnen die schottischen Unabhängigkeits-Befürworter das Bild einer Nation, die alle einschließt. Das von ihnen angestrebte Staatsbürgerschaftsrecht würde zu den liberalsten der Welt gehören. Gleichzeitig betont die SNP, dass die Unabhängigkeit angesichts der wachsenden Europa-Skepsis in England ein Schritt hin zu Schottlands europäischen Partnern wäre und nicht weg von ihnen.

Fünftens: die unsichere Zukunft des Vereinigten Königreichs. Während die Gegner die Gefahren der Unabhängigkeit ausmalen, sind sich die schottischen Wähler nur allzu bewusst, dass auch ein Verbleib im Vereinigten Königreich Risiken birgt. Der Aufstieg der Anti-Europa-Partei Ukip macht einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU immer wahrscheinlicher. Gleichzeitig deuten Umfragen an, dass die Konservativen nach der Unterhaus-Wahl im nächsten Jahr weiterregieren können. Viele links-orientierte Wähler könnten die Unabhängigkeit als Ausweg ansehen, einer Tory-Regierung zu entkommen, die von den meisten Schotten nicht gemocht wird. Dagegen stellen die Nationalisten das rosige (viele sagen sogar: naive) Bild eines Schottland, das außerhalb eines rechtsgerichteten Vereinigten Königreichs weiter einem sozialdemokratischen Kurs folgen kann.

Wenn die Schotten also Ja zur Unabhängigkeit sagen sollten, täten sie das aus positiven Gründen: weil die Befürworter eine optimistische und fortschrittliche Vision anbieten, der sich normale Schotten politisch und kulturell anschließen können. Die Geburt von Europas neuester Nation könnte am Ende doch ein Ereignis sein, das es zu feiern lohnt.

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