Russland:Sandmann spricht zur Nation

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Mächtiger Sandmann: Eine Hausfrau hört dem russischen Präsidentin in Moskau am Bügelbrett zu (Foto: dpa)

Präsident Putin lullt die Russen mit Patriotismus und Antiamerikanismus ein, während die Wirtschaft wegen seiner Ukraine-Politik dramatisch abstürzt. Sogar noch während seiner Rede.

Kommentar von Julian Hans

Russland steht vor einem großen Sieg. Es ist der Sieg des Wunsches über die Wirklichkeit. Zwar lassen die Anstrengungen, die nötig sind, um das Wunschbild aufrechtzuerhalten, kaum noch Kraft dafür übrig, um die realen Probleme anzugehen. Aber solange sich alle darin einig sind, an das angenehmere Bild zu glauben, ist der Traum lebendig. Man braucht nur einen mächtigen Sandmann, der ihn füttert. Am Donnerstag war es wieder Zeit für eine frische Prise.

Während Terroristen in Grosny mehrere öffentliche Gebäude besetzt hielten und sich Gefechte mit Spezialkommandos lieferten, war Wladimir Putin die größte Terrorattacke in Tschetschenien seit Jahren gerade einmal vier Sätze in seiner mehr als einstündigen Rede an die Nation wert. Ramsan Kadyrow, der Präsident der Teilrepublik Tschetschenien, saß im Publikum und lauschte artig. Hatte er nicht Stunden zuvor behauptet, er persönlich leite die Operation gegen die Angreifer in seiner fast 2000 Kilometer entfernten Heimat?

Egal. Es war nicht der einzige Widerspruch bei diesem jährlichen Ritual. Niemals werde Russland "den Weg der Selbstisolation gehen" und nach äußeren Feinden suchen, versprach Putin. Kurz zuvor hatte er noch gesagt, die Ereignisse in der Ukraine seien für die USA und deren Verbündete nur ein Vorwand gewesen. "Wenn es den nicht gegeben hätte, hätten sie sich etwas anderes ausgedacht, um die wachsenden Möglichkeiten Russlands klein zu halten, es zu beeinflussen oder, noch besser, um es in ihrem Interesse zu benutzen." Nur: Die Zeiten, in denen Russlands Möglichkeiten wuchsen, sind auch schon längere Zeit vorbei. Nach der Finanzkrise 2009 ging es nur noch langsam voran, seit 2012 stagniert das Land.

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Wladimir Putin vergleicht in seiner Rede an die Nation die Krim mit dem Tempelberg. Zum Schluss fügt Russlands Präsident noch eine Portion Patriotismus hinzu: "Wir sind bereit und gewillt, jede Herausforderung anzunehmen. Wir werden gewinnen."

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Amnestie für Geld aus Steueroasen

Putin verkündet eine Amnestie für Kapital, das aus Steueroasen zurück zu Mutter Russland kommt. Doch im Moment geht der Strom in die andere Richtung - und er wird stärker. Vor wenigen Tagen musste die Regierung bekennen, dass die Kapitalflucht im laufenden Jahr so hoch ausfallen wird wie seit Langem nicht mehr.

Den Verfall des Rubels versprach der Präsident ebenso im Handstreich zu stoppen wie die islamistischen Terroristen. Es sei bekannt, wer gegen den Rubel spekuliert und es gebe Instrumente, dagegen anzugehen. "Die Zeit ist gekommen, diese Instrumente zu benutzen." Nur, was ist diese Geheimwaffe, und warum soll sie erst jetzt zum Einsatz kommen, nachdem die Währung seit Jahresbeginn fast 40 Prozent gegenüber dem Dollar eingebüßt hat?

Besser wäre es für Russland, der Realität ins Auge zu sehen. Mit der Annexion der Krim und mit seiner anhaltenden Bedrohungsrhetorik hat Putin die ohnehin schwierige Lage weiter verschärft. Diese Wirkung war sogar während der Rede am Rubelkurs abzulesen: Den größten Applaus erhielt der Präsident während der ersten Viertelstunde, als er die Ukraine-Politik rechtfertigte und die Konfrontation mit dem Westen beschwor. Es waren die 15 Minuten, in denen der Rubel am Donnerstag die stärksten Verluste erlebte.

© SZ vom 05.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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